Renate Gamp, Vorsitzende des Deutschen Evangelischen Verbandes für Altenarbeit und Pflege (DEVAP) e.V., konnte wegen des Unwetters am 6. Dezember in Norddeutschland den Vortrag nicht selbst halten. Die 66jährige stellte Pflege-Anforderungen an Politik und Gesellschaft zusammen und den Reformbedarf in der Pflege aus Sicht der Beschäftigten, der Pflegebedürftigen und der pflegenden Angehörigen.

Mittlerweile liegt der Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und der SPD vor. Der DEVAP hat die Gespräche dazu aktiv begleitet. Gemeinsam mit der Diakonie Deutschland haben sie Textbausteine zu den politischen Forderungen erstellt und an die Koalitionspartner gesandt mit der Bitte um Übernahme in den Koalitionsvertrag.
Die Forderungen sind teilweise im Koalitionsvertrag wiederzufinden. Jedoch werden längst nicht alle dringenden Probleme angegangen.

Ulrike Ollinger, Pflegewissenschaftlerin und langjährig tätig am Soester Fachseminar für Altenpflege der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen e.V., hat aus den Unterlagen von Renate Gamp einen eigenen Vortrag erarbeitet. Anlass war die Feier zum 25jährigen Bestehen des Hammer Fachseminars für Altenpflege der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen am 6. Dezember 2013 in Haus Caldenhof in Hamm.

Pflege-Anforderungen an Politik und Gesellschaft

Die Rahmenbedingungen der Versorgung alter Menschen müssen in den Versorgungsstrukturen durchlässig gestaltet werden. Damit greife ambulant vor stationär, werde das Wunsch- und Wahlrecht der Menschen realisiert, bleibe die Pflege für Altenpflegerinnen und Altenpflegern ein interessantes weites Arbeitsfeld.
Gute Pflege und Betreuung bedeuten ganzheitliches und professionelles Handeln, Menschenwürde, Zuwendung, Aufmerksamkeit und Begleitung. Dafür brauche es Zeit, Personal und Geld. Genau an diesen Ressourcen aber mangele es. Längst fällig sei eine Pflege-Reform, die weit über das Pflegeneuausrichtungsgesetz hinausgehe.

Pflegeausbildung generalisieren und Ausbildungsfinanzierung bundeseinheitlich regeln
Die Ausbildungen in der Pflege müssen zu einem einheitlichen Berufsbild in Form einer grundständigen, generalistischen Ausbildung zusammengefasst werden. Die Finanzierung der Pflegeausbildung soll bundeseinheitlich stabil und verlässlich geregelt werden. Die Pflegeausbildung für die Auszubildenden müsse kostenfrei gestellt und eine Ausbildungsvergütung gewährleistet werden. Notwendig sei eine gesetzlich geregelte und vollständige Refinanzierung aller Ausbildungskosten, bei der alle, die von der Ausbildung profitieren - nämlich alle Einrichtungen im Gesundheits- und Pflegebereich -, beteiligt und mit dem gleichen Faktor belastet sind.

Leistungsgerechte tarifliche Bezahlung sichern
Ein entscheidender Faktor für die Attraktivität und den gesellschaftlichen Stellenwert des Pflegeberufs - sei eine leistungsgerechte tarifliche Bezahlung. Dafür müssen die gesetzlichen Rahmenbedingungen geschaffen werden. Der Mindestlohn für Pflegehilfskräfte sollte als absolute Untergrenze definiert werden. Zudem müsse die Zulassung von Pflegeeinrichtungen abhängig gemacht werden, ob Tariflöhne aufgrund von Tarifverträgen oder entsprechenden Arbeitsrechtsregelungen gezahlt werden. Den Trägern müsse es möglich sein, die tarifliche Bezahlung über die Pflegesätze zu refinanzieren.

Wahl zwischen verschiedenen Wohnformen und Pflegeleistungen ermöglichen
Jeder Mensch müsse die Wahl haben zwischen verschiedenen Wohnformen und Pflegeleistungen. Wahlfreiheit könne es jedoch nur geben, wenn unterschiedliche Möglichkeiten gleichwertig nebeneinander zur Verfügung stehen. Das Wahlrecht von Menschen mit Pflegebedarf dürfe nicht durch die Leistungsträger und deren Kostenerwägungen eingeschränkt werden. Um den unterschiedlichen und sich verändernden Bedürfnislagen der Menschen gerecht zu werden, sei eine weitere Ausdifferenzierung von Wohn-, Begleitungs- und Pflegeformen erforderlich. Neben der Förderung neuer Wohnformen mit ambulanter pflegerischer Betreuung sollten auch stationäre Wohnformen gefördert werden. Die bereits bestehenden Angebote sind um wohnortnahe Angebote als Teil des Leistungsspektrums im SGB XI zu erweitern und durch die Pflegekasse leistungsgerecht zu finanzieren.
Als Bestandteil der kommunalen Daseinsvorsorge müsse für Pflege ein Gesamtkonzept der wohnortnahen Versorgung und Begleitung auf kommunaler Ebene entstehen. Dazu müssen Kommunen auch durch den Bund finanziell in die Lage versetzt werden.

Pflegebedürftigkeitsbegriff muss sich am tatsächlichen Bedarf des Menschen orientieren
Um eine gute, menschenwürdige Pflege zu gewährleisten, müsse Pflegebedürftigkeit so definiert werden, dass sie sich am tatsächlichen individuellen Bedarf des Menschen orientiert. Der vorliegende Abschlussbericht des Expertenbeirates zur Ausgestaltung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs sei von der Politik aufzugreifen und der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff dann zügig einzuführen. Veränderungen im Leistungsrecht seien längst überfällig.

Tatsächlichen Hilfe- und Betreuungsbedarf der Pflegebedürftigen Rechnung tragen
Stationäre Einrichtungen brauchen eine Personalausstattung, die dem erhöhten und veränderten Bedarf entspricht. Deshalb muss eine für alle Beteiligten verbindliche Personalbemessung vorhanden sein, die fundiert und erprobt sei sowie eine flexible, den jeweiligen einrichtungsabhängigen Erfordernissen angepasste Fachkraftquote einführt. Denn nicht nur die aktuellen Pflegeeinstufungen seien entscheidend, sondern der tatsächliche Hilfe- und Betreuungsbedarf der Pflegebedürftigen.
Der bürokratische Aufwand muss möglichst gering gehalten werden. Das gelingt vor allem, in dem die Zusammenarbeit zwischen Heimaufsicht und dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen verbindlich geregelt wird. Vorschläge eines Ausschusses und der Ombudsfrau zur Entbürokratisierung in der Pflege liegen seit 2010 der Bundesregierung auf dem Tisch und seien zügig umzusetzen.

Pflegeleistung jährlich anpassen
Pflegeleistungen müssen an die Preis- und Lohnentwicklung angepasst werden, damit die Kaufkraftreduktion und der Wertverlust gestoppt werden. Die Eigenanteile der pflegebedürftigen Menschen bzw. die Leistungen des Sozialhilfeträgers dürfen nicht weiter steigen. Die mit dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz für das Jahr 2014 eingeführte Dynamisierungsoption solle daher mit einem jährlichen Dynamisierungsrhythmus ausgestattet werden. Eine weitere Privatisierung von Pflegerisiken durch Einführung einer privaten Pflegezusatzversicherung sei der falsche Weg.

Eigenständige Rechtsansprüche für pflegende Angehörige einführen
Angehörige und freiwillig Engagierte können und sollen die Fachkräfte nicht ersetzen. Aber sie müssen eingebunden werden in ein Miteinander von Professionalität, Familie und freiwilligem Engagement. Pflegende Angehörige haben einen eigenständigen Anspruch auf Rehabilitations- und Präventionsmaßnahmen, einen Rechtsanspruch auf Familienpflegezeit sowie Lohnersatzleistungen analog zur Elternzeitregelung zu erhalten. Daneben sollte im Pflegezeitgesetz eine Lohnfortzahlung bei kurzfristiger Freistellung analog zum Krankengeld bei Erkrankung des Kindes festgeschrieben werden.

Gleichzeitig müssen die Rentenbeiträge für pflegende Angehörige angehoben werden. Diakonie und DEVAP fordern eine Absenkung und eine Entkoppelung von Beitragshöhe und Pflegestufe. Denn die Belastung der Pflegenden könne nicht an der Pflegestufe gemessen werden. So seien auch die pflegenden Angehörigen von Menschen mit einer erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz einzubeziehen, die derzeit ihre Rentenversicherungsbeiträge privat zahlen.

Pflege nachhaltig und solide finanzieren
Die bei der letzten Pflegeversicherungsreform vorgenommene Beitragssatzerhöhung sei nicht ausreichend, um die Pflegeversicherung dauerhaft auf eine solide finanzielle Grundlage zu stellen. Um die Pflege nachhaltig finanziell zu sichern, sei der Beitragssatz zu erhöhen, die Beitragsbemessungsgrenze auf das Niveau der Rentenversicherung anzuheben und andere Einkommensarten wie Kapital- und Mieterträge heranzuziehen.

Bewertung des vorliegenden Koalitionsvertrages einer zukünftigen Bundesregierung
Mittlerweile liegt der Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und der SPD vor. Der Deutsche Evangelische Verband für Altenarbeit und Pflege (DEVAP) e.V. hat die Gespräche dazu aktiv begleitet. Gemeinsam mit der Diakonie Deutschland haben sie Textbausteine zu den politischen Forderungen erstellt und an die Koalitionspartner gesandt mit der Bitte um Übernahme in den Koalitionsvertrag.
Die Forderungen sind teilweise im Koalitionsvertrag wiederzufinden. Jedoch werden längst nicht alle dringenden Probleme angegangen.

Im Koalitionsvertrag heißt es: „Eine verbindliche und langfristige Regelung zur vollständigen Finanzierung der Ausbildungskosten bei Umschulungsmaßnahmen durch den Bund und die Länder sollte getroffen werden.“ Die Diakonie und der DEVAP fordern eine dauerhafte vollständige Förderung von Umschulungsmaßnahmen in der Pflege durch die Bundesagentur für Arbeit.
Diakonie und DEVAP wollen eine zentralistische Ausbildung; eine „gemeinsame Grundausbildung mit einer darauf aufbauenden Spezialisierung für die Alten-, Kranken- und Kinderkrankenpflege“ wie sie die neue Bundesregierung laut Koalitionsvertrag etablieren will, ist ihrer Meinung nach nicht zielführend.
„Wir prüfen ein verbindliches Verfahren zur Refinanzierung der Ausbildungskosten, um die Kostenbeteiligung aller Einrichtungsträger zu gewährleisten“, so steht es im Koalitionsvertrag.

Aus Sicht des DEVAP ist eine gesetzlich geregelte und vollständige Refinanzierung aller Ausbildungskosten, bei der alle, die von der Ausbildung profitieren – nämlich alle Einrichtungen im Gesundheits- und Pflegebereich -, beteiligt und mit dem gleichen Faktor belastet sind, dringend notwendig.
Erfreulich sei - so der DEVAP -, dass sich die Koalitionspartner im Vertrag endlich positionieren, dass die Ausbildung für jeden Auszubildenden kostenfrei sein müsse.
Zwar will sich die neue Bundesregierung „im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten für Personalmindeststandards im Pflegebereich einsetzen und die Pflegeberufe aufwerten“ - gute und würdevolle Pflege hat nach Ansicht des DEVAP aber ihren Preis. Pflegefachkräfte müssen Anerkennung auch durch eine angemessene Vergütung erfahren. Deshalb müssen die gesetzlichen Rahmenbedingungen geändert werden, um einen Tariflohn für Beschäftigte in der Pflege sicherzustellen.

Auch im Koalitionsvertrag sind sich die Koalitionspartner - wie  von Diakonie und DEVAP gefordert - einig, dass „Dokumentationspflichten und Bürokratie auf das Nötigste begrenzt werden müssen“.
Die zukünftige Bundesregierung will den Beitragssatz der Pflegeversicherung schrittweise um 0,5 Prozentpunkte anheben. Dass dies die soziale Pflegeversicherung dauerhaft auf eine solide finanzielle Grundlage stellt, bezweifelt der DEVAP.
Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff muss nach Ansicht des DEVAP und der Diakonie zügig eingeführt werden. Und zwar nicht „so schnell wie möglich“, wie im Koalitionsvertrag formuliert, sondern am besten schon morgen.

Niedrigschwellige lokale und gemeinwesenorientierte Angebote, die generationenübergreifend zu kleinräumigen Unterstützungsstrukturen führen, und die die Eigenverantwortung und Solidarität der Menschen vor Ort stärken, sind zu fördern nach Ansicht des DEVAP und der Diakonie. Die neue Regierung will „in einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe unter Leitung des Bundesministeriums für Gesundheit klären, wie die Rolle der Kommunen bei der Pflege noch weiter gestärkt und ausgebaut werden kann. Insbesondere soll geklärt werden, wie die Steuerungs- und Planungskompetenz für die regionale Pflegestruktur gestärkt werden kann. Im Zusammenwirken mit städteplanerischen Instrumenten sollen Sozialräume so entwickelt werden, dass pflegebedürftige Menschen so lange wie möglich in ihrem gewohnten Umfeld verbleiben können. Außerdem sollen Kommunen stärker in die Strukturen der Pflege verantwortlich eingebunden werden.“ Allein, wo sie das Geld dafür hernehmen sollen, bleibt offen, merkt der DEVAP kritisch an.

Zwar schreibt der Koalitionsvertrag: „Die zehntägige Auszeit für Angehörige, die kurzfristig Zeit für die Organisation einer neuen Pflegesituation benötigen, werden wir aufbauend auf der geltenden gesetzlichen Regelung mit einer Lohnersatzleistung analog Kinderkrankengeld koppeln.“ Lohnersatzleistungen für zehn Tage sind die richtige Richtung. Gleichzeitig müssen die Rentenbeiträge angehoben werden. Laut Koalitionsvertrag will die Bundesregierung „prüfen, ob die Anrechnung von Pflegezeiten in der Rentenversicherung verbessert werden kann“.