Festgottesdienst
111 Jahre Frauenhilfe, 500 Jahre Reformation
5. Oktober 2017, Soest

Predigt von Angelika Weigt-Blätgen
Leitende Pfarrerin

Liebe Festgemeinde, Schwestern und Brüder!
End-lich frei - 500 Jahre nachdem Martin Luther seine kritischen Thesen über die sozialen Medien seiner Zeit in den akademischen Diskurs einspeiste, fragen wir nach der Freiheit, fragen wir danach, was Luther damals im Evangelium entdeckte, was ihn protestieren ließ gegen die akademische Theologie und die kirchliche Praxis seiner Zeit und wir fragen danach, was uns mit ihm in protestantischer Tradition als Frauenhilfe verbindet.

End-lich frei - Martin Luder - ja so war sein Geburtsname - kam aus gutem Hause, war Schüler in Magdeburg, Student in Erfurt, Mönch, Bibelleser und Bibellehrer in Wittenberg und dann macht er - 1517 (vielleicht) - eine Entdeckung, die ihn veränderte und zum einem Teil und zum Motor einer großen Bewegung machte. Er entdeckte das Evangelium, die Befreiungsbotschaft der Bibel, die allen Menschen ein Angebot der Freiheit macht. Martin Luder änderte nach dieser Entdeckung seinen Namen - er nannte sich Martin Eleutherius - Martin der Befreite, der Freie. Erst Monate später - vielleicht als ihm klar wurde, wie wichtig es sei, die Bibel für alle Menschen in ihrer Muttersprache zur Befragung frei zu geben, wich er wieder ab von dem griechischen, nach gelehrter Tradition klingenden Namen, und nannte sich Martin Luther.*

End-lich frei - in unserem Motto klingt das befreit seufzende „endlich" an. Aber - fühlen wir uns so - vergnügt, erlöst, befreit - wie Hans Dieter Hüsch es sagte?

Was wir aus der Freiheit machen, wo wir an Grenzen stoßen, welche Grenzen wir voreilig akzeptieren, welche Grenzen wir mutig überschreiten - danach müssen wir uns als Christinnen und Christen - auch in der Evangelischen Frauenhilfe - immer und immer wieder fragen lassen. Die Freiheitsbewegung der Reformation ist uns anvertraut.

In unserer Satzung steht es klar und eindeutig: "Grundlage aller Frauenhilfearbeit ist die Botschaft der Bibel und das Vertrauen auf die Verheißungen des Evangeliums von Jesus Christus. Die Zuwendung Gottes wirkt als Befreiungs- und Heilungs-geschehen in die Lebenswirklichkeit von Frauen". Befreiung - da ist es wieder das große Wort, Befreiung, Befreiung und Heilung.

„Die Wahrheit macht euch frei ... Wenn euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr wirklich frei". „Wo aber der Geist Gottes ist, da ist Freiheit". Was die Evangelien, wie das des Johannes ausdrückt, und was von Paulus für die Gemeinden so sorgfältig durchdrungen und ausgelegt wurde - wie lange wurde es den Menschen vorenthalten, verstellt; wie mühsam und streitbar eroberten es Frauen und Männer der Reformation, allen voran Martin Luther, zurück. „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan." „Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan." Mit diesen Sätzen wurde Luther zur Ikone der Freiheit, die er aus eigener Befreiungserfahrung ableitete und mutig vertrat vor Reichstag und Klerus. Die Freiheit, unsere eigene Meinung zu vertreten, die Freiheit in freier und geheimer Wahl wählen zu können, uns zu entfalten und ein freies und selbstbestimmtes Leben führen zu können, verbinden wir seitdem mit der Reformation, mit unserem Verständnis von Protestantismus, mit unserem Beitrag zur Moderne.

Doch da bleibt noch der „Dienstbare Knecht" und der großartige Satz: Ein Christenmensch lebt nicht in sich selbst, sondern in Christus und seinem Nächsten, in Christus durch den Glauben und im Nächsten durch die Liebe ....

So wie Christus in Johannes sagt: „Ihr werdet noch den Himmel offen stehen sehen und die Engel auf und absteigen über den Sohn des Menschen. Siehe das ist die rechte christliche Freiheit, die das Herz frei macht von allen Sünden, Gesetzen und Geboten, welche alle andere Freiheit übertrifft, wie der Himmel die Erde".

End-lich frei
„Ihr werdet den Himmel offen stehen sehen" - Ja, die Freiheit im biblischen Sinne und im Sinne Luthers ist eine besondere, eine eigen-willige. Es geht darum, woran wir unser Herz und unseren Verstand hängen, es geht darum, für wen und für was wir Verantwortung übernehmen. Es geht nicht nur darum, wovon wir frei sind, sondern auch wozu wir frei sind, wozu wir unsere Freiheit nutzen. Es geht um uns und unsere Beziehung zu Gott und zu den Menschen.

„Grundlage aller Frauenhilfearbeit ist die Botschaft der Bibel und das Vertrauen auf die Verheißungen des Evangeliums von Jesus Christus. "Die Botschaft der Bibel ist eine Freiheitsbotschaft. Gott hat Israel aus der Gefangenschaft befreit. Gott hat Israel mit seinen Geboten die Wahlfreiheit gegeben. Als aus der Sklaverei Befreite haben sie die Wahl, die Gebote als Lebensmöglichkeit zu wählen oder ihre Freiheit an andere Götter oder Machthaber zu verspielen. Gott hat die Menschen in die Verantwortung genommen für die Schöpfung, für die Mitgeschöpfe, für das Zusammenleben; Gott hat die Menschen in die Verantwortung genommen für diejenigen, die Gewalt leiden, hungern, gefangen sind; in die Verantwortung für die, deren Herzen zerbrochen sind; die an sich und an den Menschen verzweifeln.

Die Prophetinnen und Propheten haben wieder und wieder daran erinnert. Gott will Menschen, denen bewusst ist, dass sie ihr Leben nicht sich selbst verdanken, dass sie abhängig voneinander bleiben, aneinander gewiesen sind. „Ein Christenmensch lebt nicht in sich selbst, sondern in Christus und seinem Nächsten - in Christus durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe" sagt Luther. „Die Liebe gehört mir wie der Glaube", wird später, 1848, Wichern beim Wittenberger Kirchentag sagen, und damit verbinden, was zusammen gehört: Glaube und Liebe, Liturgie und Diakonie, Spiritualität und Weltverantwortung.

Das Kreuz wird zum Freiheitszeichen. Jesus hat Verantwortung übernommen für die Kranken, die Hungrigen, die Schwachen, die Unterdrückten, die zu Unrecht Verfolgten, für die, die an sich und ihren Lebensentscheidungen Zweifelnden. Jesus ist für das Leben aufgestanden, indem er es ganz gelebt und erlitten hat mit Trauer und Einsamkeit, Streit, Verfolgung und Verrat, Freundschaft und Liebe; Jesus hat die Grenzen verschoben, die Grenzen zwischen Leben und Tod, zwischen Gott und den Menschen, zwischen Himmel und Erde. „Ihr werdet den Himmel offen stehen sehen."

Die Botschaft des Kreuzes ist: „Zur Freiheit hat euch Christus befreit" - deshalb steht jetzt fest im Glauben und in der Nachfolge, übernehmt Verantwortung; spielt befreit auf, denn ihr müsst euch weder durch gute Werke noch durch Opfer, noch durch Übungen besonderer Frömmigkeit zu-recht bringen vor Gott. Das hat er für uns getan. Ihr seid so frei, weil Jesus euch entlastet hat. Ihr werdet den Himmel offen stehen sehen.

End-lich frei - Wenn wir in dieser Freiheit Verantwortung übernehmen - erlöst, gelöst, dann kann uns doch als Christenmenschen, als Protestleute gegen den Tod (Christoph Blumhardt), der so häufig zu hörende Vorwurf des naiven Gutmenschen-tums nur ein Kopfschütteln oder ein Achselzucken kosten oder uns nochmal und nochmal zeigen lassen, was Luther meinte, wenn er sagte „..., dass ein Christenmensch nicht in sich selbst lebt, sondern in Christus und in seinem Nächsten - in Christus durch den Glauben und im Nächsten durch die Liebe."

Dieser Glaube und diese Liebe haben nichts mit naiver Träumerei oder planlosem, unreflektiertem Aktionismus zu tun. Nein dieser Glaube und diese Liebe stehen mit beiden Beinen auf dem Boden, verlangen Klarsicht und Beharrlichkeit, verlangen danach, jede-einzelne und jeden einzelnen im Blick zu haben und zugleich die Lebensbedingungen der Menschen. „Ihr werdet den Himmel offen stehen sehen"- mit beiden Beinen auf dem Boden, aber immer mal wieder den Blick zum Himmel, die Erinnerung an die Verheißung, an die Vision vom Leben in Fülle für alle Menschen - das ist fern von Träumerei. Das macht klarsichtig, das lässt den Schmerz spüren, mit dem so viele täglich leben müssen, das treibt dazu, die Verhältnisse zu ändern, sich nicht abzufinden. Solche „Hoffnungsmenschen haben Durchblick- und halten aus, was sie sehen" (so Superintendent Krause in seinem Grußwort zum 20-jährigen Jubiläum der Beratungsstelle Nadeschda). Ja solche Hoffnungsmenschen, Menschen, die sich den Blick nicht vernebeln lassen, möchten wir sein. Unsere Vision von der Fülle des Lebens für alle Menschen möchten wir nicht aus dem Blick verlieren.

End-lich frei - befreit, gelöst leben und arbeiten. Die Geschichte der Frauen zeigt, dass wir oft sehr lange warten, kämpfen, hoffen mussten bis es Grund gab „end-lich" zu seufzen. Frauen der Reformation haben Mut, Tatkraft und Verstand, Klugheit und Geld, eingesetzt, um die Bewegung voranzubringen, sich sozial-diakonisch zu engagieren, sich am theologischen Diskurs zu beteiligen. Wir haben lange gebraucht und mussten es selbst in die Hand nehmen, dass sie im großen Reformationsfestjubel nicht unerwähnt blieben oder zur Randnotiz wurden. Wie lange haben wir gebraucht, bis wir die Frauen der Bibel als Vorbilder, Impulsgeberinnen, entdecken durften, sie als Teil der großen Freiheitsbewegung des ersten und zweiten Testaments wahrgenommen haben, obwohl längst nicht mehr lateinisch gepredigt wurde? Wie lange wird es dauern bis Frauen in den christlichen Kirchen weltweit in allen Ämtern gleichberechtigt sind? Wie lange werden wir uns dafür engagieren müssen bis Frauen in allen politischen Gremien und Positionen zu 50% vertreten sind?

Nein - zum Schluss kein Klagelied, nur Klartext. Die Geschichte der Frauen, auch der Frauen in der Kirche, macht klarsichtig für alles und alle, die andere klein machen, ihnen Rechte absprechen, sie für minderwertig erklären, ihnen allenfalls Rechte zweiter oder dritter Klasse zubilligen oder ihr Existenzrecht in Frage stellen. Zugleich lässt uns diese Geschichte eintreten und arbeiten und beten für die Freiheit, für die Freiheit, sich für Lebensform und Geschlecht zu entscheiden; für die Freiheit, Heimat und Religion zu wählen, die Schutz und Orientierung für ein Leben bieten, das alle friedlichen Entfaltungsmöglichkeiten eröffnet. Sie lässt arbeiten und beten und streiten dafür, dass wir ab und zu dieses „End-lich" seufzen hören von Frauen in unserem Frauenhaus, von Frauen in unseren Beratungsstellen, von den Alten in unseren Einrichtungen, von den Menschen mit Behinderungen, von den Menschen in unseren Gemeinden und Frauenhilfen.

Ja klar - „unter den Wolken wird's mit der Freiheit langsam schwer" singen die Toten Hosen. Aber sie singen auch „unter den Wolken geben wir die Freiheit noch nicht her, weil sie uns heute alles bedeutet.“

111 Jahre im Rücken lassen zwar nicht schweben, machen aber stark. Und dann ist ja da auch noch die große Verheißung: „Ihr werdet den Himmel offen stehen sehen."
Amen
Angelika Weigt-Blätgen
Leitende Pfarrerin

 

* In die Formulierungen sind Anregungen eingeflossen aus dem Gottesdienst der Universität Greifswald zur Eröffnung des Sommersemesters 2017, aus der Predigt von Universitätsprediger Michael Herbst.