Festpredigt von Pfarrerin Angelika Weigt-Blätgen

Vor einem grauen Haar sollst du aufstehen und die Alten ehren und sollst dich fürchten vor deinem Gott: Ich bin der Herr.         3. Mose 19,32

Liebe Gemeinde,
Als ich im März diesen Jahres den Monatsspruch aus dem 3. Buch Mose las, dachte ich sofort an das geplante Jubiläum hier im Haus Phöbe. Das Wort ist wie ausgesucht für einen Gottesdienst in einem Altenheim. Ja, werden einige von Ihnen sagen: so sollte es sein: Vor einem grauen Haar sollst du aufstehen … Andere werden klagen und sagen: ach, wenn es doch so wäre. Wieder andere werden sich erinnern, wie es war, als sie selbst zur jüngeren Generation gehörten und ihnen der Respekt vor den Altgewordenen nicht immer leicht fiel. Und überhaupt: graue Haare zu haben - und ich weiß wovon ich spreche - ist auch noch keine Lebensleistung. Respektvoll sollten wir uns doch allen Menschen gegenüber verhalten -jungen und alten, blonden und braunhaarigen, schwarz- und grauhaarigen. Höflich und rücksichtsvoll sollten wir allen Menschen gegenüber sein, besonders denen gegenüber, die langsamer sind als andere, die mit einer Beeinträchtigung leben müssen - und das sind nicht immer die Alten.
Und dann verbindet der Text auch noch die Achtung vor dem grauen Haar der Alten mit der Achtung vor Gott selbst.

Deshalb werfe ich einen Blick in das 19. Kapitel im dritten Buch Mose. Dieses Kapitel ist Teil des Heiligkeitsgesetzes. Es enthält all die Gebote, die Gott Moses als Wegweisung für sein Volk mitgegeben hat, damit ihr Zusammenleben gelingen kann und damit sie in Verbundenheit mit Gott bleiben: Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der Herr, euer Gott.
So begründet Gott seine Absichten mit seinem Volk.
Das war die Botschaft Gottes, die Mose dem Volk ausrichten sollte.
Zu den Lebensregeln, zu den Geboten, die ganz besonders betont und immer wieder aufgenommen werden, gehören die Liebe zum Nächsten, die Fürsorge für die Armen, die Liebe zu den Fremden und der Respekt vor dem Alter.

Im 32. Vers heißt es:
Vor einem grauen Haar sollst du aufstehen und die Alten ehren und dich fürchten vor deinem Gott; ich bin der Herr. Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst, denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. Ich bin der Herr euer Gott.
Die Alten, die Armen und die Fremden -an ihnen zeigt sich, ob Gerechtigkeit ins Werk gesetzt wird und ob das Volk Israel seinem Gott treu ist. Die Alten, die Armen und die Fremden – die Geschichte dieses Hauses ist geprägt von der Absicht, für die Armen, die als Fremde gekommen waren und alt geworden waren. Ein zu Hause, eine Heimat zu schaffen, ein spätes Willkommen, das ihnen oft versagt blieb, als sie hier in diese Gegend kamen.

Lassen Sie uns noch einen Moment auf die Alten schauen. Sie werden in der Bibel immer wieder erwähnt.
Methusalem - sein Name ist Legende. Er soll 996 Jahre alt geworden sein; der Älteste der ersten Menschengeneration, von der die Bibel erzählt. Diesen ersten Menschen waren nach biblischem Verständnis keine Grenzen gesetzt. Auch Adam soll 930 Jahre alt geworden sein. Sie alle gehörten schon in biblischer Zeit der Vergangenheit an - eher in den Bereich der Mythen und Märchen als der Realität. Ihre Lebensspannen entsprechen wohl einer uns verborgenen Zahlensymbolik und nicht ihrem tatsächlich erreichten Alter.
Und dennoch. An den Alten - ob die Jahresangaben nun den unseren entsprechen oder nicht - an den Alten zeigt sich die besondere Güte und Gnade Gottes. Hannah, Sarah und Abraham bekommen in hohem Alter noch die langersehnten Söhne. Gott erhört ihre Gebete. Sie sind von Gott Gesegnete.
Hannah und Simeon, von denen im Neuen Testament im Zusammenhang mit der Geburt Jesu erzählt wird, haben ein Leben lang im Tempel gedient und fest an die Geburt des Messias geglaubt. Sie erkennen den lange Ersehnten, als Maria den neugeborenen Jesus in den Tempel bringt, um ihn segnen zu lassen.
Und dann gibt es noch die biblischen Sätze, die uns allen vertraut sind, selbst wenn wir gar nicht wissen, dass sie in der Bibel stehen.

„Und er starb alt und lebenssatt" - so heißt es von Hiob. Was sich am Ende so positiv und zufrieden anhört, entspricht so gar nicht dem Lebenslauf des Hiob. Er hatte schwere Krankheiten, musste mit dem Verlust geliebter Menschen leben, hatte Zweifel an sich selbst und an Gott. Er drohte zu verzweifeln. Und dennoch: am Ende seines Lebens starb er im Frieden mit sich selbst und mit Gott: alt und lebenssatt, nicht des Lebens überdrüssig.
„Unser Leben wäret 70 Jahre, und wenn's hoch kommt sind es 80 Jahre und was daran köstlich scheint ist doch nur Mühe und Arbeit gewesen" - dieser 90. Psalm wird oft an Gräbern gesprochen, in vereinfachter Form findet er sich über Todesanzeigen: „Müh' und Arbeit war sein Leben, nie dachte er an sich...".
Oder noch schlimmer: „Nur Arbeit war sein Leben..." - hoffentlich bleibt uns allen das erspart. Wie traurig wäre es, wenn am Ende über einem langen Leben dieser Satz stünde.
Bei dem Propheten Jesaja steht ein von Jochen Klepper als Lied verarbeiteter Vers, der einen Zuspruch Gottes weitergibt, der am Ende über einem Leben stehen soll: „Ja, ich will euch tragen bis zum Alter hin. Und ihr sollt einst sagen, dass ich gnädig bin."(Jesaja 46,3.4)
Das wäre großartig, wenn es am Ende heißen könnte: Er oder sie hat sich getragen gewusst von Gott, in guten und in schweren Zeiten. Sie oder er hat in guten wie in schlechten Zeiten den Glauben an die Gnade Gottes nicht verloren.

Und noch etwas:
Wenn wir genau hinschauen, werden die Alten in der Bibel niemals aus der Verantwortung entlassen. Alter ist immer Geschenk und Herausforderung, Gabe und Aufgabe. Die „Ältesten" tragen besondere Verantwortung für die Regelung öffentlicher Angelegenheiten. Sie sprechen Recht, sie schlichten Streitigkeiten. Ihre Erfahrung, ihre Weisheit, hilft das Zusammenleben zu gestalten.
„Graues Haar ist eine Krone, auf dem Weg der Gerechtigkeit findet man sie" - das Buch der Sprüche fasst zusammen, was ich eingangs schon einmal gesagt habe: alt geworden zu sein und graue Haare zu haben sind alleine noch kein Verdienst. Maßstab ist vielmehr, ob die Alten den Weg der Gerechtigkeit, der Nächstenliebe, der Liebe zu den Fremden und den Armen gegangen sind.
Alte Frauen und Männer werden nicht aus der Verantwortung entlassen, sie sind bis zum Schluss von Gott Begleitete, von Gott Begabte und Begnadete. Die Gaben Gottes sind einzusetzen – immer – und sei es im Gebet für die Armen, die Fremden, die Kranken, die Trauernden.
Und dann gibt es noch ein Prophetenwort, das allen alt Gewordenen den Himmel öffnen kann:
„Und nach diesem will ich meinen Geist ausgießen über alles Fleisch, und eure Söhne und Töchter sollen weissagen, eure Alten sollen Träume haben, und eure Jungen werden Visionen haben" spricht Gott.
Träume – eigentlich ein Privileg der Jungen – als Fenster zum Himmel für die Alten.
Großartig: Hoffentlich trägt unser Haus Phöbe dazu bei, dass Ihre Träume Nahrung bekommen. Amen