Grußwort von Julia Holtz,
Superintendentin des Kirchenkreises Hattingen-Witten

Als das Frauenheim vor 100 Jahren mit einer Frauenhilfsschwester und drei Mädchen eröffnet wurde, da hatte die Lektüre der Herrnhuter Losungen vermutlich einen festen Platz im Tagesablauf der frommen Frauen. Deshalb möchte ich mein Grußwort im Namen des Kirchenkreises Hattingen-Witten mit der Losung des heutigen Tages beginnen. Die Losung steht in Psalm 136 und führt uns zurück in die Zeit, als Gott sein Volk Israel aus der Knechtschaft in Ägypten befreit hat. Da heißt es: Der Herr dachte an uns, als wir unterdrückt waren, denn seine Güte währet ewiglich. (Psalm 136,23) Oder, wie es in der schönen, sprachlich leichter verständlichen Version der Losungen für Gehörlose heißt: Wir wurden in Ägypten unterdrückt. Aber der Herr dacht an uns. Warum? Seine Güte bleibt ewig bei uns.

Es ist die Urerfahrung des Volkes Israel, dass es in der Welt nicht gerecht zugeht. Als sie als Ausländer in Ägypten leben, machen sie diese bittere Erfahrung am eigenen Leib: nur weil sie anders sind als die anderen, müssen sie härter arbeiten, haben weniger Rechte, werden benachteiligt und zum Teil sogar verfolgt. Und genau da nimmt ihre Gottesbeziehung ihren Ursprung: dass sie Gott kennen lernen, als den, der ihr Leiden hört, dem ihr Weinen nicht gleichgültig ist, der sie rausführt aus dem Land der Unterdrückung.

Deshalb gehört es auch für uns als christliche Kirche zum Kern unserer Identität, dass wir uns für die einsetzen, die in unserer Gesellschaft an den Rand gedrängt und benachteiligt werden. Vor hundert Jahren waren es die „gefährdeten und gefallenen Frauen und Mädchen“, eine Bezeichnung, die uns heute – gottlob – nicht nur antiquiert, sondern geradezu absurd vorkommt. Als „gefallen“ bezeichnete man in erster Linie die, die unehelich ein Kind erwarteten, heute würde man vielleicht sagen, die von ihrer sexuellen Selbstbestimmung Gebrauch gemacht hatten, sofern sie die Beziehung denn tatsächlich aus eigener Entscheidung und Zuneigung eingegangen waren.

Für die bürgerliche Gesellschaft des beginnenden 20. Jahrhunderts war das ein Ärgernis, eine „Schande“ und man berief sich für dieses Urteil sogar auf christliche Werte. Wir können heute stolz sein, dass die Frauenhilfsschwestern damals sich für diese Ausgegrenzten stark machten und hier im idyllischen Wengern einen Lebensraum für sie geschaffen haben.

Über die wechselhafte und bewegte Geschichte des Frauenheims ist ja im Vorfeld schon einiges geschrieben worden und sie wird sicher auch im Laufe des heutigen Tages mehrfach erzählt oder präsentiert werden. Das möchte ich an dieser Stelle nicht wiederholen. Das Entscheidende für mich ist die Parteilichkeit, mit der sich diese Einrichtung über 100 Jahre für die eingesetzt hat, die an den Rand gedrängt wurden. Schon Ende der 1970ger Jahre richtete sich die Aufmerksamkeit auf die, die in einer immer komplexer werdenden Arbeitswelt und einer leistungsorientierten Gesellschaft leicht auf der Strecke bleiben: Frauen mit psychischen oder geistigen Behinderungen oder Lernschwächen.

Dabei waren die hohen Werte der Selbstbestimmung und Menschenwürde leitend, so dass die Verantwortlichen immer wieder nach neuen, zeitgemäßen Wegen gesucht haben, um Menschen aus der Knechtschaft ihrer Behinderungen oder Einschränkungen zu befreien und ihnen soweit wie möglich ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit zu ermöglichen.

Darin wird nicht nur etwas von der ewigen Güte Gottes erfahrbar, von der der Psalm spricht, und die sich in der Befreiung des unterdrückten Volkes offenbart hat. Darin ist auch der Geist Jesu Christi lebendig, von dem der neutestamentliche Lehrtext des heutigen Tages erzählt. Denn da heißt es in einem Vers aus dem Johannesevangelium „Wenn euch der Sohn frei macht, dann seid ihr wirklich frei“ (Johannes 8,36)

Diese Freiheit der Kinder Gottes ist eingebunden in die Gemeinschaft der Schöpfung. Christliche Freiheit ist nicht grenzenlose Selbstverwirklichung auf Kosten anderer, sondern sie steht immer in der Spannung zwischen eigener Autonomie und Verantwortung für das Ganze. Deshalb sind umweltschonende Landwirtschaft und artgerechte Tierhaltung für mich ein konstitutiver Teil eines konsequent christlich orientierten Lebensstils.

Die Ökologie hat schon früh einen hohen Stellenwert im Frauenheim bekommen. Seit mehr als 25 Jahren wird hier nach den strengen Maßstäben eines Bioland-Betriebs gewirtschaftet. Hier können Einzelne, aber auch Kirchengemeinden zum Beispiel ökologisch und artgerecht produzierten Grillwürstchen für ihr Sommerfest beziehen. Als Gemeindepfarrerin bin ich aus diesem Grund mehrfach von Witten nach hier gekommen. Hier gab es die Würstchen, die wir mit gutem Gewissen verkaufen konnten, denn unsere Gemeinde hat sich der landeskirchlichen Kampagne „Zukunft einkaufen“ angeschlossen und sich damit selbst zu einer regionalen, ökologischen und fairen Beschaffung verpflichtet.

Die Würde und Selbstbestimmung jedes Einzelnen sind hier ebenso wegweisend wie die Bewahrung der Schöpfung und die Achtung vor den Mitgeschöpfen. In diesem Sinne wünsche ich dem Frauenheim Wengern für die Zukunft Gottes reichen Segen, dass auch in 100 Jahren engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und zufriedene Bewohnerinnen und Bewohner hier gemeinsam etwas von der ewigen Güte Gottes mit einander leben und erfahren.