Grußwort von Pastor Uwe Mletzko,
Vorsitzender des Bundesverbandes evangelische Behindertenhilfe e.V. (BeB),
Theologischer Geschäftsführer der Diakovere gGmbH, Hannover

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Festgäste, liebe Frau Weigt-Blätgen, liebe Frau Spiegelberg,

ich freue mich, Sie heute im Namen des Bundesverbandes evangelische Behindertenhilfe zum 100jährigen Jubiläum persönlich beglückwünschen zu dürfen. Ganz nach dem Motto „Mit Menschen unterwegs“ ist das Frauenheim Wengern seit 1917 aktiv. Ich erspare mir und Ihnen, die Sie zum Teil viel besser die Angebotsvielfalt der Einrichtung kennen, alle Angebote aufzuzählen.

Deutlich aber wird: Sie haben es geschafft, sich seit 100 Jahren immer wieder den historisch-aktuellen Herausforderungen zu stellen und haben damit das Frauenheim Wengern unter der Trägerschaft der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen e.V. bis heute zu einem bedeutenden sozialen Dienstleister und Arbeitgeber in der Region mitgestaltet.

Insbesondere im Bereich der Behindertenhilfe leisten Sie hervorragende Arbeit mit den unzähligen Angeboten im Bereich Wohnen und Arbeiten für Menschen mit Behinderungen. Dabei haben Sie Ihr Ziel, möglichst viel Teilhabe und Selbstbestimmung für Menschen jeden Alters und jeder Behinderung zu erreichen (Pfarrerin Angelika Weigt-Blätgen, 90jähriges Jubiläum), immer vor Augen und gehen diesen Weg gemeinsam mit den betroffenen Menschen. An dieser Stelle möchte ich für den Bundesverband evangelische Behindertenhilfe e.V. an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Ehrenamtliche und Mitwirkende meinen Dank und den Respekt für Ihr Engagement und ihre Arbeit in den letzten 100 Jahren zum Ausdruck bringen!

Wie sie schon beim 90jährigen Jubiläum festgestellt haben, bleibt die Welt nicht stehen und Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen müssen beweglich sein. Können wir aber wissen, was uns in den kommenden 100 Jahren erwartet? Welche Herausforderungen müssen wir meistern, welche Veränderungen wollen wir erreichen? 100 Jahre ist eine lange Zeit, deswegen möchte ich erst einmal bis zum Jahr 2035 schauen, um auf diese Fragen einzugehen:

Die Schweizerische Stiftung Cerebral hat in Zusammenarbeit mit dem Gottlieb Duttweiler Institut in Zürich im Jahr 2015 eine Studie zur aus heutiger Sicht wahrscheinlichsten Entwicklung des Lebens von Menschen mit Behinderungen in der Welt 2035 durchgeführt. Das Ergebnis ist eine Vielzahl an Visionen, die das Leben von Menschen mit Behinderungen 2035 beschreiben:

  1. Behindertsein wird normaler. Diese Vision geht von einer Welt aus, in der „nicht mehr zwischen behindert und nicht behindert unterschieden“ wird. Man könnte meinen, dass sich die Vision durch die UN-BRK und den damit verbundenen Paradigmenwechsel weg von der Fürsorge hin zur modernen Teilhabe schon auf den Weg gemacht hat. Prof. Markus Schäfers von der Hochschule Fulda teilt die Ansicht der Studie nicht. Er führt auf, dass es weiterhin „gesellschaftliche Differenzlinien“ geben wird und als Folge auch Diskriminierung und Ausschluss. Der Wunsch nach Optimierung des Menschen steht im Widerspruch zu gleichberechtigter Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen, was wiederum zu einer „Renaissance beschützender Angebote“ führen könnte. 
  2. Barrieren verschwinden. Es soll Barrierefreiheit im öffentlichen Raum existieren. Durch eine Personalisierung und mithilfe moderner Technologien, wie den Self-Driving Cars und tollen Projekten wie das Piksl-Projekt in Düsseldorf, das Menschen zu eigenen Ingeneuren ihrer Ideen macht, kann dieses laut Studie erreicht werden. Prof. Schäfers ist der Meinung, dass eine komplette Barrierefreiheit noch nicht erreicht werden wird, die Voraussetzungen 2035 werden allerdings durch die Personalisierung und Flexibilisierung von Dienstleistungen und Produkten gegeben sein.
  3. Neue Wohnformen entstehen zwischen Heim und Daheim. 2035 soll es ein großes Angebot an dezentralen Wohnformen und neuen Wohnmodellen geben, welches wiederrum gelebte Inklusion im Alltag ermöglicht. Das Frauenheim Wengern ist meiner Meinung nach mit ihren Angeboten, wie der Möglichkeit des Wohnens in einer Gastfamilie, auf dem richtigen Weg.
  4. Technologie flexibilisiert Pflege. Die Pflege steht momentan vor einer Herausforderung, da sie bequem, einfach und schnell funktionieren soll, jedoch Fachkräftemangel herrscht. Durch neue Pflegetechnologien und Rehabilitationsroboter soll 2035 Abhilfe geschaffen worden sein. Wir müssen bewerten, ob und unter welchen Voraussetzungen wir das gut finden können.

Behindertsein wird normaler, Barrieren verschwinden, Neue Wohnformen entstehen und Technologie flexibilisiert Pflege: Das könnte die Welt von 2035 bestimmen und das Leben von Menschen, ob mit oder ohne Behinderungen, positiv beeinflussen. Dass sich dafür in unserer Gesellschaft, unserer Wahrnehmung und der Politik noch etliches ändern muss, ist uns allen bewusst. Was muss sich konkret verändern? Wie ist die aktuelle Situation? Dafür möchte ich mit Ihnen gemeinsam einen Blick auf den Teilhabebericht über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen 2016 des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales werfen. Dieser beschreibt die Entwicklung der Teilhabe in Deutschland im Zeitraum von 2005 bis 2014. Daran lässt sich zeigen, wo wir momentan stehen, was wir schon erreicht haben und wohin der Weg führen muss:

Die Barrierefreiheit im öffentlichen Raum ist nach den Angaben des Teilhabeberichts noch verbesserungsfähig. Es fehlen beispielsweise barrierefreie öffentliche Toiletten, Behindertenparkplätze und die Grünphasen der Ampelanlagen sind zu kurz. Im Bereich des Wohnens sind nach einer Prognose von 2014 bis 2030 rund 2,9 Millionen zusätzliche barrierefreie Wohnungen in Deutschland erforderlich. Folglich muss sich in Deutschland noch etwas tun, um die Vision Barrieren verschwinden Wirklichkeit werden zu lassen. Laut Teilhabebericht entwickelt sich die Wohnform weg vom stationären Wohnen (ein Anstieg um 16% seit 2008) hin zum ambulanten Wohnen (ein Anstieg um 95% seit 2008). Dieses entspricht der Vision von neuen Wohnformen und es lässt sich im Vergleich zum Jahr 2008 eine verbesserte Teilhabe vermerken. Auch weitere Themen des Teilhabeberichts, die ich nicht in einer Vision genannt habe, verdeutlichen die Notwendigkeit zum Handeln: 21% der Menschen mit Beeinträchtigung gaben an, sich große Sorgen um ihre persönliche wirtschaftliche Lage zu machen. Das sind 7% mehr als bei Menschen ohne Beeinträchtigungen und es gab keine positive Veränderung in den letzten Jahren. Auch die Zahl der möglichen Ausbildungsplätze für Menschen mit Beeinträchtigung (mehr praktische Arbeit, weniger Theorie) geht zurück. Im Bereich Sicherheit und Schutz ist zu erwähnen, dass der Teilhabebericht von einer hohen Dunkelziffer bei der Anwendung von freiheitsentziehenden Maßnahmen, wie mechanische Vorrichtungen, Medikamente und anderes, ausgeht.

Die Angaben aus dem Teilhabebericht sind immer nur als Durchschnitt zu verstehen und lassen sich nicht eins zu eins auf jede Einrichtung für Menschen mit Behinderungen oder den einzelnen Menschen mit Behinderung übertragen. Aus diesen Daten wird dennoch ersichtlich, dass wir zwar in wenigen Bereichen Fortschritte erzielt haben, uns jedoch noch lange nicht im Jahr 2035 befinden und ein langer und holpriger Weg auf uns wartet. Es bedarf öffentlicher Diskussionen und Konfrontation der Öffentlichkeit mit gelebter Vielfalt (z.B. durch Co-Housing), eine starke gemeinsame Lobbyarbeit von Behindertenorganisationen und spezielle Angebote der Politik (wie inklusive Kindergärten, Aktionstag „Rollstuhl“, etc.). Ich bin zuversichtlich, dass wir diesen Weg gemeinsam als Gesellschaft, als Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen, als Verbände und vor allem nur gemeinsam mit den Menschen mit Behinderungen gehen werden!

Ich möchte Ihnen am Beispiel des am 01.01.2017 in Kraft getretenen Bundesteilhabegesetzes verdeutlichen, was wir schon gemeinsam erreicht haben und welche konkreten Aufgaben jetzt und in naher Zukunft durch das Bundesteilhabegesetz auf uns warten.

Die ersten Entwürfe des Bundesteilhabegesetzes enthielten eindeutige Verschlechterungen für die Dienste, Einrichtungen und Menschen mit Behinderungen, wie die sogenannte „fünf aus neun“-Regelung, die vorsah, dass Einschränkungen in mindestens fünf Lebensbereichen vorliegen müssen, um einen Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten zu können. Auch der Gleichrang der Leistungen der Eingliederungshilfe und der Leistungen der Pflege war zuerst nicht vorgesehen, so dass viele pflegebedürftige Menschen mit Behinderungen keine Assistenzleistungen zur Alltagsbewältigung erhalten hätten. Diese beiden Verschlechterungen konnten wir durch gemeinsame Initiative, durch hartnäckiges Vertreten der Rechte von Menschen mit Behinderungen abwenden. Aber nicht nur für die Abwendung von Verschlechterungen, sondern auch für Verbesserungen haben wir uns gemeinsam eingesetzt. Ich möchte als Beispiele die Fortschritte beim bundeseinheitlichen Verfahren und bei den ICF-basierten Instrumenten zur Hilfebedarfsermittlung nennen, die Verbesserung der Mitbestimmung in den Werkstätten und die Verbesserungen in Bezug auf die Kosten der Unterkunft.

Andererseits gibt es immer noch ungelöste Probleme, wie die nicht hinnehmbare Ausgrenzung von Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf aus der Teilhabe am Arbeitsleben. Wir müssen alle mit einer erheblichen Systemumstellung rechnen, die unter anderem durch die Trennung der Leistungen der Eingliederungshilfe von denen der Existenzsicherung im stationären Wohnen ab 2020 ausgelöst wird. Wie die genaue Umsetzung der einzelnen Punkte des Bundesteilhabegesetzes aussehen wird, ist abhängig vom Bundesland, den Trägern der Eingliederungshilfe, den Leistungserbringern und uns allen. Wir sind dabei nur gemeinsam stark und das vor allem übergeordnet mit den katholischen Trägern der Behindertenhilfe, der Lebenshilfe, den Anthroposophen und dem Verband der Körperbehindertenmenschen. Danke, dass das Frauenheim Wengern und Sie, Frau Spiegelberg, ganz persönlich , im BeB mitwirken. Wir danken Ihnen für Verbundenheit und für Ihren Einsatz im Verband auch ganz persönlich.

Umso wichtiger ist es, dass wir weiterhin zusammenarbeiten und uns gemeinsam in die Gestaltung der Zukunft von Menschen mit Behinderungen, von Einrichtungen der Behindertenhilfe, der Gesellschaft, Ihrer und unser aller Zukunft, einbringen! Dann können wir zum 200jährigen Jubiläum des Frauenheim Wengern auf heute zurückblicken und vielleicht sehen, dass die Visionen, unsere heutigen Ziele, Wirklichkeit geworden sind.

Wie die Studie der Gottlieb Duttweiler Institutes, möchte auch ich mein Grußwort mit folgenden Worten abschließen: „Wir müssen lernfähig sein, die Bereitschaft für neue Wege, Kreativität und Mut mitbringen, um das Ziel eines selbständigen und teilhabenden Lebens für alle zu erreichen.“

Dafür wünsche ich Ihnen viel Kraft, Erfolg auf dem Weg dahin und den reichen Segen unseres Gottes. Ich danke Ihnen!