„Nicht der ganz große Wurf“ –
Kritik am Entwurf zum Prostituiertenschutzgesetz

(Februar 2016)

„Nicht der ganz große Wurf“ – Kritik am Entwurf zum Prostituiertenschutzgesetz (Februar 2015)

Pfarrerin Birgit Reiche, Leiterin der ostwestfälischen Prostituierten- und Ausstiegsberatung THEODORA und der südwestfälischen Prostituierten- und Ausstiegsberatung TAMAR, engagiert sich seit Jahren für die Anliegen der Frauen im Prostitutionsgewerbe.

Im Gespräch mit Michael Knippenkötter, Journalist der Tageszeitung ‚Soester Anzeiger‘, spricht die Verbandspfarrerin der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen über den neuen Entwurf zum Prostituiertenschutzgesetz.
Das Interview ist im Soester Anzeiger, 27.02.2016, abgedruckt worden.

 

Frau Reiche, mit welchen Gefühlen betrachten Sie das neue Prostituiertenschutzgesetz?
Reiche: Um diese Frage ehrlich zu beantworten: Für mich und für uns von der Beratungsstelle Tamar ist der Politik damit nicht der ganz große Wurf gelungen.

Sie glauben also nicht, dass die Frauen und Mädchen künftig besser geschützt werden?
Reiche: Generell werden Gesetze allein das sowieso nicht schaffen. Aber nehmen wir nur die verpflichtenden Gespräche zur gesundheitlichen Aufklärung: Die meisten Ärzte in den Gesundheitsämtern, die Beratungsangebote für Prostituierte vorhalten, sagen, dass jede Zwangsaufklärung ungut ist. Der Aufbau eines Vertrauensverhältnisses steht und fällt mit der Freiwilligkeit.

Was stört Sie außerdem?
Reiche: Dass sich die Sexarbeiterinnen immer wieder neu anmelden müssen, wenn sie einen Ortswechsel vornehmen. Warum gibt es dieses Sonderrecht? Sie sollten sich einmal anmelden und danach bundesweit arbeiten dürfen. So mutet man ihnen immer wieder eine unangenehme Prozedur zu.

Was meinen Sie?
Reiche: Viele Menschen gehen nicht gerne zu Behörden. Das ist jedes Mal eine Überwindung für die Frauen, sich dort vorzustellen. Manchmal werden sie regelrecht stigmatisiert. Abgesehen davon stelle ich mir schon die Frage, wie das rein praktisch ablaufen soll. Wenn eine Frau alle sechs Wochen woanders arbeitet, was nicht unüblich ist, dann dürfte das die Behörden völlig überlasten.

Verstehen Sie denn die Motivation dahinter?
Reiche: Vor allem Opfer von Menschenhandel sollen auf diesem Weg erkannt werden. Ich denke, das wird nur funktionieren, wenn wir die Frauen dazu bringen, sich freiwillig anzumelden. Ich glaube nicht, dass ein Gesetz allein das leisten kann: Vor allem ist es nicht hilfreich, freiwillige Prostitution und Menschenhandel immer in einem Atemzug zu nennen.

Wie kann man die Situation der Sexarbeiterinnen aus Ihrer Sicht verbessern?
Reiche: Das Strafrecht ahndet Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung schon jetzt. Allerdings fehlt es zur Bekämpfung des Menschenhandels an Personal, zum Beispiel bei Polizei und Zoll. Die bislang bestehenden Gesetze sind zu einem großen Teil ja schon ausreichend, sie müssten nur konsequent durchgesetzt werden. Abgesehen davon: Viele Frauen, die sich freiwillig prostituieren, kennen ihre Rechte nicht. Und da kommen die Beratungsstellen ins Spiel.

So wie Tamar für den Bereich Südwestfalen.
Reiche: Absolut. Wir bräuchten bundesweit ein flächendeckendes Netz von Beratungsstellen, in denen die Prostituierten über ihre Rechte aufgeklärt werden. Dabei ist auch unsere Situation nicht gesichert. Derzeit sind wir für drei Jahre über die Stiftung Aktion Mensch finanziert.

Und danach?
Reiche: Das ist die Frage - und auch das grundlegende Problem. Alle sagen, dass Aufklärungs- und Beratungsarbeit wichtig sind. Aber der Bund sieht die Verantwortung für die Finanzierung beim Land; das Land macht die Kommunen verantwortlich. Und die Kommunen sagen, es ist kein Geld dafür da.

Was erfüllen Sie mit Tamar ansonsten für Aufgaben? Mit welchen Problemen kommen die Frauen zu Ihnen?
Reiche: Ein großes Thema ist die Krankenversicherung. Natürlich besteht in Deutschland eine Krankenversicherungspflicht. Aber 80 Prozent der Frauen, die wir beraten, stammen aus dem europäischen Ausland und bieten ihre Dienste hier an. Sie sind nichts anderes als Selbstständige mit unregelmäßigem Einkommen. Viele können sich die Krankenversicherung schlichtweg nicht leisten. In den großen Städten gibt es für Menschen ohne Versicherung Gesundheitsangebote. Die gibt es auf dem Land so gut wie gar nicht. Früher gab es noch regelmäßig Zwangsuntersuchungen in den Gesundheitsämtern, das wurde irgendwann abgeschafft. Der Kreis Soest hat für Sexarbeiterinnen Sprechstunden angeboten, was gerade für die Frauen ohne Versicherung eine große Hilfe war. Aktuell sind auch diese weggefallen. Und nun? Aufklärung können wir leisten, aber keine Gesundheitsberatung oder gar eine Untersuchung.

Womit kommen die Sexarbeiterinnen außerdem zu Ihnen?
Reiche: Es sind ganz vielfältige Fragen und Probleme: Sie kommen beispielsweise zu uns, wenn Behördengänge anstehen. Wie schon erwähnt, treffen sie dort manchmal auf Vorbehalte. Häufig geht es auch um einen Ausweg aus den Schulden, die sich mit der Zeit angehäuft haben. Und nicht zuletzt wollen Frauen aus der Prostitution aussteigen - und bitten uns um Unterstützung bei diesem Vorhaben.

Hintergrund:

TAMAR und THEODORA
Die Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. ist Trägerin zweier Prostituierten- und Ausstiegsberatungsstellen, in Ostwestfalen gibt es seit 5 Jahren THEODORA und in Südwestfalen seit 2014 TAMAR. Sie berät und begleitet Mädchen und Frauen, die in der Region Ostwestfalen bzw. Südwestfalen sexuelle Dienstleistungen anbieten - ganz gleich ob in Appartements, Wohnwagen, Clubs oder Bars. Es geht um Hilfestellungen bei bestehender Schwangerschaft, bei der alltäglichen Arbeit in der Prostitution, bei Suchtmittelabhängigkeit, bei der Wohnungssuche oder anderen Dingen.

Kontaktmöglichkeit:

TAMAR
Prostituierten- und Ausstiegsberatung für Mädchen und Frauen
Feldmühlenweg 17
59494 Soest
Telefon: 02921 371-244
e-Mail: info@tamar-hilfe.de
Internet: www.tamar-hilfe.de

THEODORA
Prostituierten- und Ausstiegsberatung für Mädchen und Frauen
Bielefelder Str. 25
32051 Herford
Tel.: 05221 3427111
e-Mail: info@theodora-owl.de
Internet: www.theodora-owl.de

 

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