Stellungnahme zu den Auswirkungen des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes auf Menschen
in stationären Einrichtungen der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen e.V.
(Oktober 2004)

Die 70 Teilnehmerinnen der Herbstkonferenz der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen e.V. stellen mit Betroffenheit und Empörung die Auswirkungen des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes auf Menschen in stationären Einrichtungen der Alten- und Behindertenhilfe fest. Sie fordern die Politikerinnen und Politiker auf, umgehend die Regelungen in bezug auf Menschen, die in stationären Einrichtungen leben, grundsätzlich zu überdenken:
Finanzielle Einbußen für die Betroffenen und die damit verbundenen Einschränkungen in der Lebensqualität gilt es zu verhindern.
Sie sind abzumildern durch Eingriffe in die Gesetze und Regelungen in folgender Hinsicht:

(1) Der Wegfall der sogenannten Härtefallklausel seit 01.01.2004, die Menschen mit geringem Einkommen von der Zuzahlungspflicht befreite, muss rückgängig gemacht werden.

(2) Leistungen, die seit dem 01.01.2004 entfallen oder nur noch in Ausnahmefällen gewährt werden, sollen wieder in den gesetzlichen Leistungskatalog aufgenommen werden. Dazu zählen vorrangig:

  • Fahrtkosten (Diese werden derzeit nur noch auf Antrag aus zwingend medizinischen Gründen übernommen.)
  • Sehhilfen / Brillen: Die Regelung, die Kosten für die Sehhilfe erst zu übernehmen, wenn nach Korrektur durch eine Brille die Sehfähigkeit weniger als 30% beträgt, ist aufzuheben und neu zu regeln.
  • Hörgeräte und Batterien für Hörgeräte.

(3) Die Befreiung von Zuzahlungen muss unbürokratischer und zeitnaher erfolgen und bei bestimmten Diagnosen bzw. Indikationen, vor allem bei chronifizierten Erkrankungen, länger als für das laufende Jahr gelten.

(4) Die Verordnung von Medikamenten und Hilfsmitteln muss primär am Hilfebedarf und den Bedürfnissen des Patienten oder der Patientin orientiert und nicht von wirtschaftlichen Überlegungen geleitet sein. Beim Alter der Patientin oder des Patienten kann zudem nicht die Gleichbehandlung aufhören. Die Budgetierung wird häufig als Vorwand für die Ablehnung einer Verordnung im Alter genannt.
Neben der Ablehnung der Zuständigkeit für Verordnungen und/ oder (Weiter-) Behandlung werden Betreuungs- und Pflegekräfte immer öfter mit dem Einwand konfrontiert, dass jeder für die Älteren ausgegebene Euro den jüngeren und „wirklich kranken und bedürftigen Patienten“ nicht mehr zur Verfügung stehe.

Eine weitere, seit längerem praktizierte Methode besteht darin, dass fast alle Krankenkassen Genehmigungen für Hilfsmittel oder ähnliches erheblich verzögern. Trotz mehrfacher direkter Nachfrage der Betreuungs- und Pflegekräfte dauert es mitunter Wochen, bis eine Genehmigung oder ein Ablehnungsbescheid vorliegt. Bewohnerinnen und Bewohner werden aus Krankenhäusern in die stationären Einrichtungen entlassen, die noch vor einem Jahr auf gar keinen Fall entlassen worden wären. Die pflegerische Versorgung und Betreuung wird vom Krankenhaus auf die stationären Einrichtungen verlagert und die Krankenkassen werden von Kosten entlastet.

(5) Die restriktive Einstufung des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen von Menschen in Pflegestufen aus Gründen der Kosteneinsparung geht zu Lasten der stationären Einrichtungen.
Sie erbringen in vielen Fällen einen Betreuungs- und Pflegeaufwand, vor allem bei Demenzerkrankten, den sie nicht vergütet bekommen. Außerdem werden die Betreuungs- und Pflegekräfte durch umfangreiche und detaillierte Dokumentationen im Zusammenhang mit Nachfolge- und Verschlimmerungsanträgen belastet.
Der durch die Antragsverfahren gebundene Personalaufwand wird den zu Pflegenden genommen.

Langfristig geht die Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. davon aus, dass sich die gesundheitliche Versorgung, vor allem der älteren Menschen, in der Bevölkerung verschlechtern wird.
Eine frauenspezifische Benachteiligung ist deutlich: Statistisch gesehen werden Frauen älter als Männer und der Frauenanteil in den Einrichtungen der Behinderten- und Altenhilfe liegt über 80%. Dadurch sind Frauen von Einschnitten des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes überproportional betroffen und auch die Leidtragenden der neuen Gesetzgebung.
Staatliche Sozialleistungen sollen einen Gerechtigkeitsausgleich schaffen. Reformen wie Hartz IV mindern diese ungleichheitsreduzierende Wirkung deutlich.

Die Europäische Union hat sich 2001 für eine Definition von Armut entschieden, die für die Mitgliedsländer und damit auch für die Bundesregierung verbindlich ist: Ausgangspunkt ist dabei das sogenannte Nettoäquivalenzeinkommen, ein unter Bedarfsgesichtspunkt modifiziertes Pro-Kopf-Einkommen - nicht Haushaltseinkommen -, das bereits unterschiedliche Verteilungen in einem Familieneinkommen (Haushaltsvorstand, Partner, Kinder) einbezieht. Darüber hinaus berücksichtigt es die unteren und oberen Einkommensextreme geringer oder gar nicht.
Das vom Statistischen Bundesamt errechnete monatliche Nettoäquivalenzeinkommen betrug 2002 in den alten Bundesländern 1.217,00 Euro und in den neuen Bundesländern 1.008,00 Euro.
Die EU setzt die Armutsgrenze bei 60% des Nettoäquivalenzeinkommens fest. Für die alten Bundesländer liegt die Armutsgrenze demnach bei 730,20 Euro, für den Osten bei 604,80 Euro.

Die Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. fordert daher für die Sozialhilfeempfängerinnen in stationären Einrichtungen ebenfalls, dass der Taschengeldbetrag in Höhe von zur Zeit 88,00 Euro im nächsten Jahr nicht um 13% gekürzt werden darf. Von diesem Betrag sind die Dinge des täglichen privaten Bedarfs, wie beispielsweise Frisör, Fußpflege, Hygieneartikel, Genussartikel, Bücher, Geschenke, usw. und seit dem 01.01.2004 auch die Zuzahlungen wie Praxisgebühr bei jedem ersten Arztkontakt im Quartal, Zuzahlungen für Medikamente, Notarztgebühr, Krankenhausaufenthalt, Heilmittel, Hilfsmittel, stationäre Vorsorge und Rehabilitation zu finanzieren.

Die Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. ist ein Frauenverband, in dem fast 100.000 Frauen Mitglied sind. Sie ist Trägerin mehrerer stationärer Einrichtungen der Alten- und Behindertenhilfe im Kreis Soest, im Ennepe-Ruhr-Kreis und im Märkischen Kreis.

Fenster schließen