Stellungnahme:
Das Beste wäre gut genug! - Kinder im Frauenhaus

(Oktober 2004)

Im Frauenhaus Soest suchten im Jahr 2003 41 Frauen mit insgesamt 49 Kindern Schutz und Zuflucht, was eine Jahresdurchschnittsbelegung von 96,9% ausmacht.

Dieses Verhältnis (54% Kinder, 46% Frauen) entspricht weitgehend den Belegungen aus den letzen 14 Jahren, d.h. die Gruppe der Kinder ist um ca. 10% höher als die der Frauen.

Auch wenn es mittlerweile Allgemeingut ist, dass Frauenhäuser auch immer Kinderhäuser sind, so ist es fast ebenso sicher, dass sich der parteiliche Ansatz der Frauenhausarbeit überwiegend auf die Arbeit mit den Frauen bezieht. Gleichzeitig wissen wir, basierend auf den Ergebnissen zahlreicher Untersuchungen sehr genau, dass häusliche Gewalt sich durch mehrere Generationen tradiert. Unterlassenes Handeln an dieser Stelle, etwa aus Gründen der Parteilichkeit für Erwachsene, bedeutet, die Frauen und Männer der nächsten Generation sehenden Auges zu schädigen.

In den meisten Fällen sind die Mitarbeiterinnen des Frauenhauses die ersten, die die für Frauen und Kinder weitreichenden Folgen eines von Gewalt geprägten Lebens in vollem Ausmaß erleben. Die Kinder und Jugendlichen, die bei uns mit ihren Müttern Zuflucht suchen oder, was teilweise noch bedrückender ist, weiterhin in gewalttätigen Lebensverhältnissen aushalten, sind oft schwer traumatisiert und in der Regel vernachlässigt. Der Aufenthalt im Frauenhaus ist für sie oft eine spezielle Zumutung, trotz der aktuellen Erleichterung, die sich einstellt, wenn sie sich in Sicherheit befinden. Kinder sind vor allem froh darüber, dass ihre Mütter Hilfe bekommen. Dadurch werden sie etwas von der ungeheuren Verantwortung und Überforderung entlastet.

Kinder, die als Opfer oder Zeugen von familiärer Gewalt oft in extremer Weise mit betroffen sind, brauchen deshalb eine qualifizierte, eigenständige Unterstützung. Kinder haben einen eigenständigen Anspruch auf Zuwendung und Unterstützung.

Die Sicht des Kindes

Alle Kinder in den Frauenhäusern haben Gewalt erlebt. 
Dies geschieht in einer sehr differenzierten Art und Weise und muss in den verschiedenen Facetten wahrgenommen werden.

Aus den Gesprächen mit den Müttern, teilweise nach einer sehr langen Zeit in unserer nachgehenden Beratung, erfahren wir, dass für einige Kinder die Gewalt mit ihrer Zeugung, der Vergewaltigung der Mutter durch den Vater begann. Zusätzlich zu den Folgen der sexuellen Traumatisierung gerieten die Mütter in dieser Situation in eine schwere Krise und in ein unlösbares moralisches Dilemma.

Die Frauen mussten sich entscheiden, ob sie dieses Kind, das für die Gewalttat keine Verantwortung trägt, bekommen können. Der oft über Wochen dauernde Entscheidungs“kampf“ kann zu extremen Schuldgefühlen und Ambivalenzen dem Kind gegenüber führen. Die Mutter- Kind- Beziehung bleibt unter Umständen über Jahre stark beeinträchtigt. Dies kann zu einer fortlaufenden Reinszenierung der ursächlichen Gewalt des Täters zum Opfer in der nun aktuellen Beziehung zwischen Mutter und Kind kommen. Häufig identifizieren sich die Mütter in einem schädlichen Ausmaß mit dem Kind - beide gleichermaßen Opfer der männlichen Gewalt - oder können das Kind als Anstoß ihrer eigenen biographischen Änderung nutzen.

Für viele Ungeborene setzt sich die Gewalt während der Schwangerschaft fort. Die Frauen werden von ihren Partnern vergewaltigt, geschlagen, in den Bauch getreten und gestoßen.
Als Folge der Misshandlungen kommt es häufig zu massiven Komplikationen bis hin zu Fehlgeburten. Diese Gewaltauswirkungen werden selten in den Vorsorgeuntersuchungen wahrgenommen.

Ein großer Teil der Kinder im Frauenhaus wurde in die Gewalthandlung gegen die Mutter direkt mit einbezogen. Die Täter nahmen keine Rücksicht darauf, dass die Frau das Kind trug und es nicht schnell genug weglegen konnte. Oder die Frauen halten das Kind auf dem Arm, weil sie glauben, sich dadurch schützen zu können.

Nur sehr wenige Mütter berichten von Misshandlungen gegen ihre Kinder. Wenn dies geschah, so war es für sie immer ein sofortiger Grund den Täter zu verlassen. Auch die Kinder sprechen in erster Linie von der miterlebten Gewalt, ohne die eigenen Misshandlungserfahrungen thematisieren zu können. Gehen wir von bundesdeutschen Zahlen aus, nach denen 10 bis 15 % der Eltern häufiger Gewalt praktizieren, so müssen wir davon ausgehen, dass Kinder im Frauenhaus ebenfalls Opfer von körperlicher Misshandlung und sexuellem Missbrauch sind.

Auch wenn die Kinder nicht direkt betroffen sind, wachsen alle in einem Klima der psychischen und physischen Gewalt auf.
Die Kinder sind in der Regel anwesend, wenn der Vater die Mutter beschimpft, sie zusammenschlägt, Gegenstände nach ihr wirft, sie bedroht. Darüber erfahren sie, wie die Mutter sich dem Vater unterordnet und sich seinen Anforderungen anpasst. Sie sehen, dass die Mutter verzweifelt ist, weint, evt. sie selbst anschreit. Sie sehen die Verletzungen und hören die vertuschenden Erklärungen der Mutter.

Viele der Kinder sind aufgrund fehlender elterlicher Kompetenz und Sicherheit vernachlässigt. Die Väter kümmern sich nur punktuell um die Kinder, die Mütter sind oftmals aufgrund der Misshandlungsfolgen phasenweise nur eingeschränkt in der Lage, für ihre Kinder angemessen zu sorgen. Häufig waren die Kinder auf sich allein gestellt und überfordert. Zusätzlich versuchten sie den Vater von den Gewalttaten abzuhalten und ihre Mutter zu unterstützen.

Viele Kinder verhalten sich auch im Frauenhaus noch möglichst angepasst und unauffällig, um in einem familiären Klima, in dem jedes kindliche Verhalten als Auslöser für elterliche Gewalthandlungen konstruiert werden kann, keinen Anlass für Auseinandersetzungen zu bieten. Mädchen und Jungen werden in Gewalttätigkeiten einbezogen und verstrickt, so dass sie hoffen müssen, dass die Mutter sich dem Vater unterordnet. Oft haben die Kinder gehört, dass ihnen etwas passiert, wenn die Mutter sich dem Willen des Vaters widersetzt. Viele der Kinder haben mit der Angst gelebt, dass die Mutter Selbstmord begeht oder vom Vater umgebracht wird. Tatsächlich besteht in der Phase der Trennung für die Frauen das höchste Risiko, schwer verletzt zu werden.

Für alle Kinder kommen noch erhebliche materielle Nachteile hinzu. Sie sind von Armut betroffen, wenn der Vater einen großen Teil des Haushaltseinkommens für seine eigenen Bedürfnisse ausgibt und nach der Trennung das Leben aus der Sozialhilfe heraus finanziert werden muss.

Auch nach der vollzogenen Trennung mit Hilfe des Frauenhauses versuchen die Männer über die Kinder die Kontrolle über die Frau aufrecht zu erhalten. Auch diejenigen, die sich kaum um die Kinder gekümmert haben, kämpfen um Umgangs- und Sorgerecht, um die Kinder gegen die Mutter zu instrumentalisieren.

Alle Kinder in den Frauenhäusern haben Gewalt erlebt.
Die Annahme eines automatischen Gewaltkreislaufs stimmt zwar nicht mit den Forschungsergebnissen überein, ein sehr starker Zusammenhang zwischen Kindheitserfahrungen und eigenem Gewalthandeln ist jedoch belegt. Die Arbeit mit den Kindern in den Häusern ist auch in präventiver Hinsicht unerlässlich.

Die Sicht der Mütter

Manche Frauen bleiben „wegen der Kinder“ lange Jahre in der Misshandlungsbeziehung, um später festzustellen, dass auch die Kinder misshandelt worden sind und die Kinder gehofft hatten, die Mutter würde endlich gehen. Manche Frauen gehen wegen der Kinder und hören dann, dass ihnen der Vater fehle. Die Frauen können sich hier kaum „richtig“ verhalten und reagieren auf diese Ambivalenzen immer mit Schuldgefühlen gegenüber ihren Kindern.

Kinder und Jugendliche haben außer einer punktuellen Veröffentlichung der Gewalt kaum Möglichkeiten, die familiäre Gewalt zu verhindern. Primär verantwortlich für die Gewalt und deren Beendigung sind die Täter, deren Veränderungsbereitschaft nach unseren Erfahrungen nicht vorhanden bzw. äußerst gering ist.
Der eigene Schutz und der ihrer Kinder liegt in der Verantwortung der Frauen und das in einer Situation, in der sie selbst unter Schock stehen und in ihrer Gesundheit und in ihrem Selbstwertgefühl sehr angegriffen sind.

Zunächst sprechen aus der Sicht der Frauen viele Gründe gegen eine Trennung oder für die Rückkehr zum Partner. Dazu gehören Reue und Veränderungsbereitschaft auf Seiten des Täters sowie seitens der Frauen Hoffnung und Liebe. Hinzu kommt, dass die Frauen den Mann nicht nur als Täter kennen, sondern auch als Partner. Sie empfinden häufig Mitleid für ihn und fühlen sich verantwortlich für den Erhalt der Vater-Kind-Beziehung.

Neben dem Wunsch, die Beziehung aufrechtzuerhalten, sind für viele Frauen die negativen Konsequenzen einer Trennung entscheidend. Dazu gehört die Angst vor der Realisierung der Drohungen mit weiteren Gewalttaten oder Wegnahme der Kinder. Bestärkt wird die Angst durch mangelnde Sicherheit, die auch das Frauenhaus nicht gewährleisten kann. Oftmals wird bei Außenstehenden die Gewaltbereitschaft des Täters unterschätzt und dem Opfer Übertriebenheit unterstellt.

Außerdem erleben die Frauen, dass sie stigmatisiert sind u.a. durch den Vorwurf, sie würden Ehe und Familie zerstören. Hinzu kommen wirtschaftliche Konsequenzen wie Armut und sozialer Abstieg. Aufgrund der anhaltenden Demütigungen schämen sich die Frauen und wagen nicht mehr über die Gewalterlebnisse zu sprechen.

Die vergeblichen Unterstützungsversuche führen bei außenstehenden Hilfsinstitutionen häufig dazu, dass die Glaubwürdigkeit der Frau angezweifelt wird, die Unterstützungsbereitschaft zurückgeht und die Isolation zunimmt. Oft sind die Frauen mit dem Vorwurf konfrontiert, dass sie in der Gewaltsituation bleiben wollen. Wir machen die Erfahrung, dass es im Schnitt drei bis vier Trennungsversuche braucht, bevor es zum endgültigen Beziehungsabbruch kommt.

Frauen suchen verstärkt in den Gesprächen die Möglichkeit, über die Schwierigkeiten bei der Trennung zu sprechen, ohne gleich bewertet zu werden oder als schlechte Mutter entwertet zu werden.

Vor allem in der Zeit nach dem Frauenhaus ist intensive Arbeit an der Mutter-Kind-Beziehung erforderlich, die schon während des Aufenthaltes begonnen wird. Die bisherigen Autoritätsstrukturen sind durch die Trennung vom Gewalttäter zusammengebrochen, eine neue gewaltfreie Struktur muss aufgebaut werden. Mütter und Kinder brauchen Unterstützung, oft aber auch Herausforderungen und manchmal auch Hilfen bei der Entscheidung, die Kinder in die Verantwortung anderer abzugeben.

Wir können jeder Frau zusichern, offen und furchtlos über Konflikte mit den Kindern zu sprechen, ohne beurteilt zu werden oder als schlechte Mutter angesehen zu werden. Häufig wird von anderen übersehen, dass Frauen nur dann ihre Kinder beschützen können, wenn sie selbst Schutz finden.

Die Angebote des Frauenhauses

Aus den geschilderten Folgen von Gewalt und Vernachlässigung für Kinder wird deutlich, wie wichtig es ist, die Arbeit mit Kindern im Frauenhaus als eigenständigen und gleichberechtigten Arbeitsbereich durchzuführen.
Die betreffende Mitarbeiterin ist ausschließlich und parteilich für Kinder und Jugendliche zuständig. Hierzu bedarf es der Zusammenarbeit und Kooperation der Mütter. Für unseren Arbeitsbereich gilt genau wie überall, dass Kinder und Jugendliche in der Entwicklung und Führung ihres Lebens weitgehend von ihren Eltern abhängig sind. Nur wenn wir die Mütter zur Zusammenarbeit gewinnen können, haben wir eine Chance an den Lebensbedingungen der Kinder etwas zu verändern.

Die Kinderbetreuung im Frauenhaus ist ein Angebot und somit freiwillig, d.h. die Kinder können nur dann kommen, wenn die Mütter sie bringen und abholen. Sie ist kein Ersatz für Kindergarten, Hort, Schule, Jugendzentren, Sportverein. Die Mitarbeiterin des Kinderbereiches spricht von sich aus Mütter, die den Kinderbereich weder für sich noch für ihre Kinder nutzen, immer wieder auf die vorhandenen Angebote an. Sie erstellt ihr Angebot immer für einen überschaubaren Zeitraum neu, um sich zeitnah auf die jeweils im Haus anwesenden Kinder einzustellen.

In der Praxis zeigen sich die Ziele und Inhalte beispielsweise wie folgt:

  • Im Frauenhaus können Mädchen und Jungen einen gewaltfreien Raum erfahren.
  • Die Mitarbeiterin des Kinderbereiches steht als verlässliche Bezugsperson zur Verfügung.
  • Die Kinder und Jugendlichen bekommen einen sicheren Platz und Zeit für ihre vielfältigen Gefühle.
  • Die pädagogische Arbeit tritt mit Kontinuität und Verbindlichkeit der gewaltbedingten Verwirrung entgegen. Die Einhaltung von Regelmäßigkeiten ist ein wichtiges Mittel auf dem Weg zur Normalität.
  • Die Kinder und Jugendlichen erhalten umgehend eine Orientierung, wo und warum sie im Frauenhaus sind.
  • Getrennt von ihren Müttern erhalten sie ein individuelles Aufnahmegespräch, in dem sie u.a. nach ihren Erlebnissen befragt und ihre Wünsche angehört werden.
  • Die Mitarbeiterin ermittelt, ob Kinderschutzmaßnahmen eingeleitet werden müssen und kooperiert mit der Mitarbeiterin des Frauenbereiches.
  • Wenn die Kinder länger im Haus leben, wird mit ihnen ein Sicherheitsplan erarbeitet, nach dem geklärt wird, wie sie sich bei einer erneuten Gewaltsituation schützen können.
  • Gleichzeitig wird bei längerem Aufenthalt geklärt, wo die Kinder Begleitung, Förderung und Unterstützung erhalten und gemeinsam mit den Müttern Kontakte zu den Einrichtungen hergestellt.
  • Der Kinderbereich bietet einen Freiraum zum Kindsein, zum Spielen, Toben, Basteln, zum Erleben von Spaß und Vergnügen. 

Bereits an anderer Stelle wurde erwähnt, dass gerade die Mitarbeiterinnen in den Frauenhäusern die ersten sind, die das Ausmaß der erlittenen Gewalt im vollen Umfang erleben. Dazu kann auch gehören, dass die Mütter ihre Kinder vorübergehend nicht mehr ausreichend versorgen können. Für diese Situation haben wir ein Instrumentarium entwickelt, um das Kind bei der Durchsetzung eines gewaltfreien Lebens zu unterstützen.

Wir gehen davon aus, dass kaum eine Mutter, die über ihre gesamten emotionalen und intellektuellen Möglichkeiten verfügt, ihren Kindern bewusst Schaden zufügen will. Deswegen übernehmen wir in dieser Situation vorübergehend die Verantwortung für das Kind, bis die Mutter dies im vollen Umfang wieder selbst kann. Dies ist für uns kein Widerspruch zum parteilichen Postulat. Weiterhin ist unsere Aufgabe, Schutz und Hilfe vor männlicher Gewalt zu bieten, ohne die konzeptionelle Grenze zwischen Müttern und Kindern zu ziehen. Vielmehr zielt das parteiliche Handeln auf eine Orientierung im Hinblick auf Gewaltfreiheit und Menschenwürde für beide beteiligten Gruppierungen ab.

Die Perspektiven

Das Wohl der von häuslicher Gewalt betroffenen Kindern, ihre Sicherheit, ihre Unterstützung und das Recht auf eine kindgerechte Entwicklung stellen Forderungen an alle beteiligten Institutionen und soziale Netzwerke, die es mit diesem Personenkreis zu tun haben.

  • Das öffentliche Interesse an Kinder- und Jugendrechten muss erhalten bleiben.
  • Das Gesundheitswesen, die Kinder- und Jugendhilfe, die Schulen, Polizei u.a. müssen ihre Hilflosigkeit bei häuslicher Gewalt überwinden und einen angemessenen Gestaltungsauftrag entwickeln.
  • Der Perspektivwechsel im Hinblick auf klare Stellungnahmen gegen Gewalt muss gefestigt werden. Statt von Opfern Veränderungen zu erwarten, müssen die Täter in die Verantwortung genommen werden.
  • Das Kindschaftsrecht muss als Recht der Kinder und nicht als Recht der Eltern umgesetzt werden.
  • Kinder aus Gewaltverhältnissen bedürfen einer lebensweltbezogenen Unterstützung in Form von aufsuchenden Angeboten, die sich an ihren Lebenslagen orientieren und nicht einer ideologischen Pädagogik entsprechen.
  • Sie brauchen zuverlässige, nicht gewalttätige und nicht gewalthinnehmende Bezugspersonen in all ihren Lebensbereichen, um gerade für sie das Beste zu erreichen.

Aus: Geschäftsbericht 2003 der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen e.V., vorgelegt in der Mitgliederversammlung Oktober 2004

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