Stellungnahme zur aktuellen Situation im Bereich der medizinischen Vorsorge und Rehabilitation von Frauen
(Januar 2006)

Chronische Überlastung, Erschöpfungssituationen, Befindlichkeits- und somatoforme Gesundheitsstörungen und das Risiko- und Erkrankungspotential von Müttern und allein erziehenden Vätern, aber auch der Kinder, also für die gesamte Familie- dies sind bekannte Fakten in der Gesellschaft.

Die Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. hat sich seit Jahrzehnten für Verbesserungen im gesundheitspolitischen Bereich eingesetzt durch politische Stellungnahmen, Mitwirkung in Forschungsprojekten zu Frauengesundheit, Beratungs- und Vermittlungsarbeit für stationäre Vorsorge- und Rehabilitationsmaßnahmen sowie durch die Trägerschaft von Mutter- und Mutter-Kind-Häusern.
Die gesundheitspolitischen Entscheidungen in Deutschland werden jedoch derzeit verschärft durch kurzfristige wirtschafts- und arbeitspolitische Ideen. Die Deregulierung des Gesundheitssystems wird durch die immer stärkere Privatisierung forciert. In diesem Zusammenhang stellt die Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. fest:

Die Antworten der Krankenkassen sind unbefriedigend.
Statt Mehrausgaben in diesem Bereich ist ein Negativrekord bei den Krankenkassen zu verzeichnen. Die Zugangsbarrieren für medizinische Angebote werden für Mütter mit Kindern immer höher. Effiziente Mutter-Kind-Maßnahmen werden zerstört durch Medizinisierung. Der neuen Regierung bietet sich ein großes Feld für wirkungsvolle Taten. Leider hat die Bundesministerin Dr. Ursula von Leyen Ende Dezember 2005 in ihrem Schreiben an die Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. mitgeteilt, die ehemalige Ministerin Renate Schmidt habe sich in diesem Sinne schon an die Ärzte gewandt. „Allerdings unterliegt die endgültige Entscheidung über einen Kurantrag bei den Krankenkassen.
Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hat auf die Bewilligungspraxis der Krankenkassen keinen Einfluss.“ Mütter verlieren ihre Rechte, weil andere kontrovers definieren, ob ihre Krankheit ein medizinisches oder ein gesellschaftliches Problem ist.

Die Antworten der Krankenkassen sind unbefriedigend 
Der gesetzliche Auftrag der derzeit 261 gesetzlichen Krankenkassen (GKV), die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung zu sichern, ist nicht widerspruchsfrei zu verbinden mit den betriebswirtschaftlichen Orientierungen der Krankenkassen. Dies betrifft vor allem Mütter, Väter und ihre Kinder in ihrer Familienplanung. Die Antworten der Bundesverbände der Krankenkassen auf den offenen Brief der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen e.V. vom November 2005 sind daher unbefriedigend.

Der neuen Regierung bietet sich ein großes Feld für wirkungsvolle Taten 
Die neue große Koalition hat in ihrem Koalitionsvertrag festgehalten, dass sie „insbesondere (…) Familien mit sozialen Risiken besondere Fürsorge zukommen lassen“ will. Kein Kind solle verloren gehen und alle hätten ein Recht auf „gesundes Aufwachsen“ (vgl. Koalitionsvertrag, Seite 95).
Gerade im Bereich der Gesundheitsvorsorge für bedürftige Familien bietet sich für die neue Regierung ein großer Bereich für wirkungsvolle Taten. Das gilt z.B. nicht nur für das notwendige Ende der finanziellen Überlastung einkommensschwacher Eltern mit chronisch kranken Kindern durch die 2004 eingeführten Gesetze; Handlungsbedarf besteht auch bei den auf wirkungsvolle Prävention angelegten Mutter-Kind-Kuren für gesundheitlich ausgebrannte Familien. Sie sind bereits seit 2000 Opfer immer rabiaterer Rotstiftaktionen vieler Krankenkassen. Mit der Gesetzesnovelle 2002 schuf die Bundesregierung mit Unterstützung aller Fraktionen eine gesetzliche Grundlage mit dem Ziel, stationäre Leistungen für ein zielgruppenspezifisches und familienmedizinisch orientiertes Angebot medizinischer Vorsorge und Rehabilitation zu schaffen.

Statt Mehrausgaben, Negativrekord bei den Krankenkassen 
Der AOK Bundesverband, der Bundesverband Deutscher Privatkrankenanstalten, der Medizinische Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen, der Bundesverband der Betriebskrankenkassen, der IKK-Bundesverband, die Knappschaft Bahn-See, der Verband der Angestelltenkrankenkassen e.V. / Arbeiterersatzkassenverband e.V. sowie der Bundesverband der landwirtschaftlichen Krankenkassen haben in ihrem mehrseitigen Antwortschreiben auf den offenen Brief der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen e.V. zwar die besondere Bedeutung der Leistungen der medizinischen Vorsorge und Rehabilitation für Mütter und Väter nach den §§ 24 und 41 SGB V anerkannt, handeln jedoch nicht entsprechend:
Nach Zahlen des Bundesgesundheitsministeriums sinken die Ausgaben seit 2000 von Jahr zur Jahr, insgesamt um mehr als 30 %, obwohl der Gesetzgeber gut begründet eine Steigerung der Mutter-Kind-Maßnahmen vorsah. Aufwendungen für Vorsorge- und Rehabilitationsleistungen für Mütter und Mütter mit Kindern betrugen 2000 in der GKV 409.762.462,00 Euro. Im Jahr 2004 beliefen sich die Aufwendungen nur noch auf 289.428.000,00 Euro. Allein von 2003 auf 2004 wurden die Aufwendungen um mehr als 19 % gesenkt. Statt der erwarteten Mehrkosten in Höhe von jährlich 5 Millionen Euro hat sich stattdessen eine Einsparung in Höhe von 65 Millionen Euro bis Ende 2004 ergeben. Mit den von Kassen praktizierten Kürzungen im Bereich der Mutter-Kind-Kuren mit fast 20 % schafften sie im letzten Jahr einen Negativrekord. Im ersten Halbjahr 2005 ist bislang ein Minus zum Vergleichszeitraum von 11 % festzustellen.

Effiziente Mutter-Kind-Maßnahmen werden zerstört durch Medizinisierung 
Die Krankenkassen haben trotz Kritik keine umfassenden Verbesserungen des Zugangs für Mütter und Kinder veranlasst. Stattdessen bemühen sie sich, diese besonderen Maßnahmen zu klassischen indikationsspezifischen Rehabilitationsmaßnahmen umzustrukturieren. Eine weiter zunehmende Medizinisierung der Mutter-Kind-Maßnahmen nach Muster der klassischen indikationsspezifischen Rehabilitation zerstört nach Meinung von Fachleuten jedoch die spezifische, ganzheitlich ausgerichtete und hohe Effektivität der Mutter- bzw. Vater-Kind-Maßnahmen. Sie mindert zudem die Effizienz der Maßnahmen.

Mütter verlieren ihre Rechte, weil andere kontrovers definieren, ob ihre Krankheit ein medizinisches oder ein gesellschaftliches Problem ist 
„Da bei Müttern und Vätern in Familienverantwortung ein Zusammenhang zwischen bestehenden Risikofaktoren, Funktionseinschränkungen oder Beeinträchtigungen mit dem Arbeitsfeld „Familie“ gegeben ist, ist eine ambulante Vorgehensweise nicht gegeben “, stellte das Ministerium für Gesundheit wiederholt im Juli 2005 fest. Das Ziel einer qualitativen Sicherung der Mutter-Kind-Kuren, wie es das Gesetz 2002 anstrebt, konnte jedoch nicht erreicht werden: Ca. 80 % der Ablehnungen von Anträgen der Mütter werden in den letzten Jahren begründet mit der Umsetzung des Grundsatzes „ambulant vor stationär“.

Als Hauptargument für die Ablehnung von Kuren wird der Vorrang der ambulanten medizinischen Versorgung durch das Antwortschreiben der Bundesverbände der Krankenkassen bestätigt. Sie begründen dies damit, eine Leistung müsse bedarfsgerecht sein. Vor der Erbringung von Leistungen würden die Bedürftigkeit, die Fähigkeit sowie die positive Prognose für Rehabilitation oder Vorsorge geprüft. Ob zur Erreichung der Rehabilitations- oder Vorsorgeziele von Bedeutung sei, dass sich die Antragssteller vom häuslichen Umfeld distanziert, würde von den Gutachtern des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen sorgfältig abgewägt werden. Kuren seien jedoch medizinische Leistungen der GKV, „die mit Mitteln der Solidargemeinschaft finanziert werden. Es kann also nicht erwartet werden, dass Krankenkassen Leistungen vorwiegend aus sozialen Gründen oder ausschließlich zur Erholung erbringen.“

Mütter scheinen einem Definitionsmachtkampf von Krankenkassen und Politik zum Opfer zu fallen, inwieweit ihre Erkrankungen medizinische oder soziale Leistungen sind.

Die Zugangsbarrieren für medizinische Angebote werden für Mütter mit Kindern immer höher 
Auch das zweite Ziel der Gesetzesnovelle 2002, der problemlosere Zugang für behandlungsbedürftige Mütter bzw. Väter und Kinder sowie eine adäquate Steigerung der Inanspruchnahme, wurde weit verfehlt. Die Uneinheitlichkeit der Antragsverfahren und die Willkür von Ablehnungen, Behandlung von Widersprüchen und Beantragungen von Verlängerungen sind inzwischen nicht verringert worden. Die Spitzenverbände der Krankenkassen weisen zwar auf ihre Bemühungen zur Vereinheitlichung von Formularen und Verfahren hin, bislang ist außer Vielfalt und scheinbarer Willkür keine Veränderung zu bemerken für die Antragsteller.

Die Zugangsbarrieren zu medizinischen Angeboten - insbesondere der Rehabilitation - scheinen für Mütter und ihre Kinder wesentlich größer zu sein als für vergleichbare Gruppen der Bevölkerung. Neben Überlastungssituationen durch Familienverantwortung und psychischen Problemen spielen hier auch Diskriminierungsprozesse und finanzielle Barrieren eine entscheidende Rolle. Diese werden durch die häufig abweisende Haltung der Krankenkassen und hohen Ablehnungsraten der medizinischen Dienste verstärkt. Die Ablehnungen der Kuranträge beliefen sich im ersten Halbjahr 2005 auf 34 %. 69 % der Ablehnungen gingen in ein Widerspruchsverfahren. Erfolgreich waren die Widersprüche zu 42 %.

Statt auf die eigene rigide Ablehnungs- und Sparstrategie einzugehen, verweisen die Spitzenverbände der Krankenkassen auf rückläufige Belegungszahlen von Mutter-Kind-Häusern, die einer Vielzahl von Einflüssen, die sich dem Verantwortungsbereich des Medizinischen Dienstes bzw. der Krankenkassen entziehen würden, unterliegen.

So benennen sie beispielhaft das rückläufige Antragsverhalten des Versicherten. Ein wesentlicher Grund hierfür sei die Angst des Versicherten vor Arbeitsplatzverlust sowie gesetzliche Neuerungen im Bereich von Zuzahlungen. „Hier berichten uns die Krankenkassen darüber, dass die Zuzahlungspflicht gem. § 61 Abs. 2 SGB V in Verbindung mit dem neu gefassten Belastungsgrenzen nach § 62 SGB V dazu führt, dass vor allem sozial benachteiligte Frauen/Männer und Familien deutlich weniger Anträge stellen.

Hinzu kommt, dass auch die schlechte gesamtwirtschaftliche Situation (Angst um den Arbeitsplatz, Einkommensunsicherheiten oder Arbeitslosigkeit des Partners) zu der rückläufigen Nachfragesituation führt. Außerdem deutet vieles darauf hin, dass insgesamt auch die Zahl der Antragsberechtigten (Mütter und Väter) allein aufgrund demographischer Entwicklung rückläufig ist.“ 
Die Anträge im ersten Halbjahr 2005 sind im Vergleich zum ersten Halbjahr 2004 um ca. 11 % zurückgegangen. Sicherlich sind die genannten Faktoren auch Gründe dafür. Das erklärt jedoch nicht die hohe Anzahl der Antragsablehnungen durch die Krankenkassen, sondern zeigt die hohen Barrieren für Kurbedürftige, um zu ihrem Recht zu kommen.

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