Offener Brief zur Menschenrechtssituation in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten

(Juni 2014)

Der Vorstand der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen e.V. hat in seiner Sitzung am 30. Juni 2014 beschlossen einen offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundesaußenminister Franz-Walter Steinmeier zu schreiben.

Die Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. fordert darin beide auf:

Der offene Brief im Wortlaut:

Im März/April 2014 konnten achtzehn westfälische Frauen die Menschenrechtssituation in Palästina beobachten. Eine dreizehntägige Frauenbildungs- und Begegnungsreise in die palästinensischen Gebiete wurde von der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen e.V. veranstaltet. In zahlreichen und intensiven Begegnungen mit Israelis und Palästinensern, aber auch im Gespräch mit Einzelpersonen und Vertreterinnen von unterschiedlichen Organisationen erhielt die Reisegruppe Einblick in die aktuelle Lage.

Die derzeitige Situation in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten gibt Anlass zu größter Besorgnis. Während in der öffentlichen Wahrnehmung die offene Gewalt auf beiden Seiten nachgelassen zu haben scheint, nimmt die Gewalt anhand von Verordnungen, Stadt- und Raumplanung deutlich zu. Es scheint, dass weder die palästinensische Gewalt noch die israelische Politik von strategischer Demütigung und Diskriminierung der Bevölkerung und der Region Frieden bringen wird. Eine aggressive Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten und die Abriegelungspolitik im Gazastreifen sind Formen von Gewalt und Verletzungen der elementaren Menschenrechte. Die Unterdrückung in den besetzten palästinensischen Gebieten durch willkürliche Verhaftungen, Angriffe auf die Zivilbevölkerung und Einschränkung der Freizügigkeit stellt eine Bedrohung für den Frieden im Nahen Osten dar.

Uns wurde glaubhaft berichtet, dass der Staat Israel verantwortlich ist für mehrere Verletzungen von internationalen Menschenrechtskonventionen. Folter und illegale Exekutionen sind scheinbar übliche Bestandteile der israelischen Besatzungspolitik.
Es ist empörend, dass Israel folgenlos so viele UN-Resolutionen und Initiativen ablehnen konnte, die das Ende der Menschenrechtsverletzungen und eine friedliche Beilegung des Konfliktes zum Ziel hatten.2

Die politische Agenda der Besiedelung der C-Zone3 sieht 70% des Gebietes für israelische Siedlungen vor, weniger als 1% des Gebietes, das nach den Oslo-Abkom­men von 1993 bis 1995 der palästinensischen Autonomie zuzuführen wäre, ist für palästinensische Entwicklung vorgesehen. Dieses Vorgehen Israels ist eine klare Verletzung des Artikels 64 der Genfer Konvention4. Darin ist es einer Besatzungsmacht verboten, ihr Rechtssystem in ein besetztes Gebiet zu übertragen. Daraus resultierende Hauszerstörungen und Zwangsumsiedlung innerhalb der besetzten palästinensischen Gebiete5 sind Formen von Gewalt.
Die Errichtung einer über 700 km langen Mauer, weitestgehend auf palästinensischem Territorium, und die Praxis der Vergabe von Reisegenehmigungen und deren Kontrolle an den „checkpoints“ sind Formen von Gewalt.
Deutschland ist ein wichtiger Handelspartner Israels.6 Waren, die in illegalen Siedlungen auf enteignetem oder besetztem Land produziert werden, gelangen demnach wahrscheinlich auch nach Deutschland. Palästinenserinnen und Palästinenser haben durch die Auswirkungen von Landenteignung und/oder Besatzungspolitik oft keine andere Wahl, als ihre frischen Erzeugnisse von israelischen Unternehmen exportieren zu lassen oder in den illegalen Siedlungen zu arbeiten. Auch dies sind Formen von Gewalt.

Israel zahlt einen hohen Preis für die völkerrechtlich illegale Besatzung, nicht nur finanziell, sondern auch durch Tote und Verletzte Zivilpersonen und Militärangehörige und die langfristige Zerstörung der Gesellschaft und ihrer demokratischen Werte. Mit großer Trauer und tiefer Sorge beobachten und dokumentieren in Menschenrechtsorganisationen engagierte israelische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger die beängstigenden Entwicklungen in ihrem Land. Auch die Fortsetzung ihrer Arbeit wird gefährdet durch einen Beschluss der Knesset, ausländische Spendengelder für diese Organisationen staatlich zu kontrollieren und zu drosseln.

Als Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e. V. fühlen wir uns verantwortlich, an die Shoah zu erinnern. Sie hatte ihren Ursprung in Deutschland und gipfelte im Genozid an sechs Millionen europäischen Jüdinnen und Juden. Deutschland ist aufgrund seiner Geschichte in besonderem Maße dazu verpflichtet, gegen Menschenrechtsverletzungen auch und gerade durch den Staat Israel seine Stimme zu erheben.

Wir verkennen nicht die schwierige Situation, in der sich die Menschen in Israel befinden. Sie sind in ständiger Furcht um ihre Sicherheit und um die Existenz ihres Staates. Er liegt inmitten einer Region, in der Kriege und Bürgerkriege, sowie die Unterdrückung ethnischer und religiöser Minderheiten und Völkermorde geduldet und teilweise sogar staatlich sanktioniert werden. Dies und regelmäßig wiederkehrende Drohungen gegenüber Israel führen dazu, internationalen Schutz für Israel zu fordern und zu gewähren.

Nach Jahren der Gewalt und des Leidens hat die Mehrheit der Menschen, die die Reisegruppe der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen  in Israel und Palästina traf, nur einen Wunsch: Frieden.
Die Forderungen des Verbandes stellen sich hinter die Vorschläge, die von jüdischen und palästinensischen Gesprächspartnerinnen auf der Reise7 formuliert wurden.

Die Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. fordert Sie auf


1 Deutscher Wortlaut siehe: www.ag-friedensforschung.de/regionen/Nahost/genf-deutsch.html

2 Eine Listung der Resolutionen der UN findet sich z.B. unter http://en.wikipedia.org/wiki/List_of_the_UN_resolutions_concerning_Israel_and_Palestine

3 Nach den Verträgen von Oslo und Wye wurde die Westbank in drei Zonen eingeteilt: Zone A: unter palästinensischer Verwaltung;  Zone B: palästinensisch - israelische Verwaltung, Zone C: israelische Verwaltung. Prozentual verteilen sich die Zonen nach dem Vertrag von Oslo: Zone A 3%, Zone B 24 % und Zone C 73 %.

4 Das Strafrecht des besetzten Gebietes soll in Kraft bleiben, es sei denn, dass dies eine Gefahr für die Sicherheit der Besatzungsmacht oder eine Behinderung der Umsetzung des Genfer Abkommens IV darstellt (Artikel 64).

5 2011 - ein Rekordjahr von Vertreibungen - wurden insgesamt 622 palästinensische Gebäude von israelischen Beamten zerstört, 36% davon (oder 222) waren Familienwohnhäuser; der verbleibende Anteil war mit den Lebensgrundlagen verbunden (einschließlich der Wasserspeicherung und landwirtschaftlichen Strukturen). Das Ergebnis waren 1094 Menschen, die ihr Heim verloren hatten, fast das Doppelte wie 2010. Das Jordantal erlitt die höchste Zahl an Zerstörungen (32% aller zerstörten Strukturen, 40% der zerstörten Siedlungsstrukturen, 37% der Vertriebenen) mit 199 zerstörten Gebäuden und 401 Menschen, die ihr Heim verloren. (www.arendt-art.de/deutsch/palestina/Stimmen_Israel_juedische/icahd_Judaisierung%20von%20Palaestina.htm)

6 Deutschland bleibt der wichtigste Wirtschaftspartner Israels innerhalb der EU. Obwohl sich das Wachstum der israelischen Wirtschaft 2012 verlangsamte, hat die deutsche Exportwirtschaft ihre Position auf dem israelischen Markt halten können. Die wichtigsten deutschen Importgüter in Israel sind Fahrzeuge sowie Erzeugnisse der chemischen Industrie, Maschinen und optische Instrumente, Mess-, Prüf- und Präzisionstechnik. Produkte "Made in Germany" genießen in Israel einen hervorragenden Ruf, deutsche Unternehmen sind bei der Vergabe von Infrastrukturprojekten gut aufgestellt. (www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/Israel/Bilateral_node.html)

7 Besucht wurden u.a. das Frauenzentrum Bint al Reef "Töchter der Dörfer"; das internationale Begegnungszentrum "Tent of Nations"; die Frauen-Kooperative, die in Handarbeit Couscous herstellt, das vor allem über Fair-Trade im Ausland vertrieben wird; Rabbi Yehiel Grenimann von den "Rabbinern für Menschenrechte"; die Frauenorganisation machsom watch; Einrichtung für geistig behinderte Kinder und Erwachsene auf dem Sternberg; die Organisation MIFTAH, die sich auf unterschiedlichen Ebenen für eine Stärkung der Zivilgesellschaft in Palästina, für die Förderung von Frauen und gegen Menschenrechtsverletzungen und Korruption einsetzt

8 Deutscher Wortlaut siehe: www.ag-friedensforschung.de/regionen/Nahost/genf-deutsch.html

9 Ein detaillierter Maßnahmenkatalog findet sich in: Handel gegen den Frieden, S.30f. Boykottaufruf von 22 europäischen Nichtregierungsorganisationen (Okt. 2012): z.B. eine korrekte Verbraucherkennzeichnung aller Siedlungserzeugnisse sicherstellen, Firmen vom Handel mit und von Investitionen in Siedlungen abraten, sicherstellen, dass Siedlungsprodukte nicht vom bevorzugten Marktzugang profitieren, Produkte und Firmen aus Siedlungen von öffentlicher Auftragsvergabe ausschließen, Bürgern vom Kauf von Grundstücken in Siedlungen abraten

 

Zum Hintergrund:

Die Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. hat seit Jahrzehnten inhaltliche Schwerpunkte in der Ökumene, im Weltgebetstag sowie in den Frauenbildungs- und -begegnungsreisen in den Nahen Osten.
Näheres dazu finden Sie unter:

 

Fenster schließen