(März 2022)
Politikerinnen und Politiker in Nordrhein-Westfalen sind gefordert, sich für eine verbindliche Absicherung und Weiterentwicklung der behördenunabhängigen Beratungsangebote für Prostituierte einzusetzen. Obwohl in der nun endenden Legislaturperiode der Antrag der aktuellen Regierungsparteien CDU und FDP „Nein! Zum Sexkaufverbot des Nordischen Modells – Betroffenen helfen und nicht in die Illegalität abschieben“ im Parlament und mehreren Ausschüssen behandelt worden ist und Gegenstand einer Anhörung war, sind viele Forderungen bis heute nicht umgesetzt.
Die Prostituierten- und Ausstiegsberatungsstelle Tamar in Trägerschaft der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen sieht gerade auf Landesebene zahlreiche konkrete Handlungsmöglichkeiten: So ist bei der Umsetzung des Prostituiertenschutzgesetzes (ProstSchG) der Schutzgedanke für Prostituierte zu stärken.
Prostitution ist gesellschaftlich und moralisch immer noch ein Tabu. Ein generelles Verbot von Prostitution halten viele für die Lösung der Probleme von Ausbeutung, Menschenhandel und sexueller Gewalt. Ein Verbot verhindert aus unserer Sicht jedoch weder Prostitution noch Menschenhandel, sondern führt zu einer Verschiebung in die Illegalität. Dies wurde durch die COVID-19 Pandemie, als das Ausüben sexueller Dienstleistungen untersagt war, deutlich sichtbar. Die betroffenen Frauen sind Gewalt und Ausbeutung noch schutzloser ausgeliefert und verlieren die Möglichkeit, sozial- und krankenversichert zu sein.
Prostituierte und Opfer von Menschenhandel sollten mit ihren eigenen Problemen, Sorgen, Wünschen und Träumen wahrgenommen werden und nicht zur Projektionsfläche unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen werden.
Prostitution ist nicht nur ein Phänomen der Großstädte, sondern auch im ländlichen Bereich und kleineren Städten vorhanden. Auch hier besteht das Recht auf den Zugang zu vorurteilsfreier, parteilicher und anonymer Beratung. In der Pandemie zeigte sich, dass diese spezialisierten Beratungsangebote für viele Frauen, die einzigen Anlaufstellen waren, da diese gezielt auf die besondere Lebenslage der Prostituierten ausgerichtet sind.
Die Beratungsstelle Tamar Südwestfalen ist seit 2014, Tamar Münsterland seit 2018 tätig. Beide Angebote verdanken sich einer Projektförderung von Aktion Mensch.
Die Arbeit von Tamar Südwestfalen musste in weiten Teilen im April 2020 eingestellt werden, weil die kommunalen Kreise und die Stadt Hamm eine kommunale Förderung abgelehnt haben. Dies geschah mitten im ersten Lockdown der COVID-19 Pandemie, wodurch die Frauen in den betroffenen Regionen keinerlei Unterstützung seitens einer Fachberatungsstelle in Anspruch nehmen konnten.
Im Jahr 2021 haben die Kreise Soest und Olpe einer Finanzierung der Beratungsstelle TAMAR zugestimmt.
Zum Einzugsbereich der Beratungsstelle Tamar im Münsterland gehörten die Kreise Borken, Coesfeld, Steinfurt, Warendorf und die Stadt Münster. Hier endete das Projekt durch die Förderung von Aktion Mensch im September 2021. Die Kreise Coesfeld, Borken und Steinfurt haben einer Anschlussfinanzierung über das Projektende hinaus zugestimmt. Die Stadt Münster finanzierte TAMAR bis Jahresende 2021, der Kreis Warendorf lehnte eine Anschlussfinanzierung gänzlich ab.
Die Beratungsstelle Tamar setzt sich ein für das Recht der Prostituierten auf ein selbstbestimmtes, vorurteilsfreies Leben und Arbeiten in der Prostitution, überregional und politisch. So hat sich Birgit Reiche, Leitende Pfarrerin der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen e.V. und Leiterin der Beratungsstellen TAMAR Südwestfalen und Münsterland, im Januar 2021 bei der Anhörung im Landtag NRW gegen das Nordische Modell und das Sexkaufverbot positioniert.
Die Beratungsstelle unterstützt Frauen bei der Entwicklung einer neuen Lebensperspektive außerhalb der Prostitution. Die individuellen Bedarfe der Klient*innen stehen im Mittelpunkt der Beratung und bilden die Grundlage für das gemeinsame Vorgehen.
Mobile, aufsuchende Arbeit ist ein wesentlicher Tätigkeitsschwerpunkt der Beratungsstelle. Die Mitarbeiterinnen von Tamar treffen die Prostituierten vor Ort an ihren Arbeitsplätzen in den unterschiedlichen Prostitutionsbetrieben (Wohnungen, Clubs, Bordellen, Bars, Kneipen und Wohnwagen) und informieren sie über das Beratungsangebot. Somit finden die ersten Kontaktaufnahmen häufig direkt in der Arbeits- und Alltagswelt der Sexarbeiter*innen statt, ohne dass die Frauen aktiv nach einem passgenauen Beratungsangebot suchen müssten.
Neben der aufsuchenden Arbeit stellt die individuelle Beratung und Begleitung der in der Prostitution tätigen Frauen einen weiteren Schwerpunkt der Arbeit von Tamar dar. Die Beratung erfolgt niederschwellig und klientinnenzentriert, telefonisch oder persönlich. Die Anliegen und Wünsche der jeweiligen Personen stehen im Zentrum.
Um Sexarbeiter*innen bei ihren Anliegen innerhalb und außerhalb der Prostitutionstätigkeit zu unterstützen, bilden Kooperationen mit anderen Beratungsstellen oder Behörden eine wichtige Grundlage. Das Netzwerk hat Tamar immer weiter ausgebaut. Zu den wichtigsten Kooperationspartnerinnen gehören Ordnungsämter, Gesundheitsämter, Jobcenter, Sozialämter, Polizei, Ausländerbehörden, Finanzämter, Steuerberater*innen, Frauenberatungsstellen, Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen und Frauenhäuser.
Tamar beteiligt sich außerdem an unterschiedlichen kommunalen Arbeitskreisen und Netzwerken (z.B. Runde Tische gegen Gewalt an Frauen) und berichtet dort von ihrer Arbeit. TAMAR ist überregional Mitglied im Bündnis der Fachberatungsstellen für Sexarbeiter*innen e.V. und im Dezember 2021 ist die Mitarbeiterin Sabine Reeh in den Vorstand gewählt worden.
Darüber hinaus initiierte Tamar bereits mehrere „Runde Tische Prostitution“, an dem Vertreter*innen der unterschiedlichen Behörden, Institutionen und Initiativen beteiligt waren.