Politische Forderungen für den Bereich Opfer von Menschenhandel zur Landtagswahl NRW 2022

(Februar 2022)

Politische Forderungen für den Bereich Opfer von Menschenhandel zur Landtagswahl NRW 2022 (Februar 2022)

Politikerinnen und Politiker in NRW sind gefordert, sich für eine verbindliche Absicherung und Weiterentwicklung der unverzichtbaren Leistungen für Frauen und Mädchen, die von Gewalt betroffen sind, einzusetzen. Zur NRW-Landtagswahl 2022 hat die „NRW-Vernetzung der spezialisierten Beratungsstellen für Opfer von Menschenhandel“ politische Forderungen formuliert und den Parteien geschickt.

Heute gibt es in NRW acht geförderte spezialisierte Fachberatungsstellen für Opfer von Menschenhandel. Die spezialisierte Frauenberatungsstelle für Opfer von Menschenhandel, NADESCHDA in Herford, ist darunter die einzige Beratungsstelle im ländlichen Raum in NRW.
Die Fachberatungsstellen (FBS) arbeiteten von Anfang an in enger Absprache mit den ermittelnden Polizei- und Justizbehörden. Vielen Hunderten Frauen und Mädchen konnte in diesen Jahren aus ihrer Zwangssituation herausgeholfen werden, mit steigender Tendenz. Dank der Aussagen vieler mutiger Zeuginnen konnten Täter bestraft und Menschenhändlerringe zerstört werden.

Forderungen an die Fraktionen im künftigen Landtag sind:

#1 Bedarfsgerechte Regelfinanzierung der spezialisierten Beratungsstellen
Die Fachberatungsstellen benötigen sichere personelle Finanzierung, kostendeckende, bedarfsgerechte Sachkostenfinanzierung, sowie Finanzierung der Honorarkräfte und Dolmetscher*innen in angemessener Höhe. Die vorgesehenen Stundensätze, nach denen die Fachberatungsstellen ihre Honorarkräfte und Dolmetscher*innen bezahlen können, sind aktuell so niedrig, dass oft eine optimale muttersprachliche Beratung und Begleitung nicht gewehrt werden kann. Darüber hinaus ist weiterhin eine finanzielle Absicherung der Präventions-, Öffentlichkeits- und Vernetzungsarbeit, aber auch die Sicherung der Fortbildungs- und Supervisionskosten notwendig zur Sicherung der Qualität der Arbeit.

#2 Geschützte Unterbringung für alle Betroffene unabhängig von der Staatsangehörigkeit
Wir fordern bedarfsgerechte Finanzierung der geschützten Unterbringung und Ausbau der Unterbringungsstrukturen im Hinblick auf die Schutzbedürftigkeit der Betroffenen. Die Betroffenen brauchen eine Unterbringung, einen Schutzraum, wo sie sich stabilisieren können. Davon gibt es jedoch viel zu wenige. Wir fordern außerdem die Einbeziehung der deutschen Betroffenen von Menschenhandel in die Finanzierung der geschützten Unterbringung und den Einsatz der Honorarmittel durch das Land NRW. Die Anzahl dieser Betroffenen ist in den letzten Jahren gestiegen und stellt die Fachberaterinnen immer wieder vor dieselbe Herausforderung kurzfristig geschützte und von Leistungsträgern finanzierte Unterbringung zu akquirieren.

#3 Behördliche Anerkennung der Opferidentifizierung und der psychosozialen Stellungnahmen der FBS; Einführung des Zeugnisverweigerungsrechts für die Fachberaterinnen
Für die gelingende Arbeit ist eine behördliche und institutionelle Anerkennung der Identifizierung von Opfern vom Menschenhandel durch die spezialisierten Beratungsstellen unabdingbar. Außerdem ist die Einführung eines Zeugnisverweigerungsrechts für die Mitarbeiterinnen der spezialisierten Beratungsstellen lange überfällig. Die Mitarbeiterinnen der Fach- und Beratungsstellen arbeiten engmaschig mit den Betroffenen zusammen. Für eine gelingende Zusammenarbeit muss daher eine vertrauensvolle Beratung und Begleitung gewährleistet sein. Wir fordern auch die Beteiligung der spezialisierten Beratungsstellen bzw. Einbeziehung der Kompetenzen und Kenntnisse der Fachberaterinnen bei der Entwicklung von Gesetzen und Regelungen für den verbesserten, adäquaten Opferschutz.

#4 Optimierung der Rechte der Betroffenen und konsequente Umsetzung der Istanbulkonvention
Auch künftig sollte massiv an dem Ausbau von Strukturen gearbeitet werden, um Betroffene schnell zu identifizieren (Schulungen, Runde Tische etc.), vor allem im Hinblick auf Opfer von Menschenhandel im Asylsystem (in Asylunterkünften/ Abschiebehaft etc.). Dort werden Betroffene oft erst sehr spät oder gar nicht identifiziert. Leider findet die Anwendung der Bedenk- und Stabilisierungsfrist (§59 Abs. 7 AufenthG) in NRW nicht einheitlich statt. Es muss sich zwingend ändern, dass diese verlängerte Ausreisefrist gewährt wird, sobald eine Fachberatungsstelle dies beantragt. Die Fachberatungsstellen fordern außerdem die Ausübung des Selbsteintrittsrechts zugunsten der Betroffenen im Rahmen der Dublin-VO, da häufig Frauen mit der Rücküberstellung der Gefahr einer Reviktimisierung ausgesetzt sind. Unabhängig von der zeugenschaftlichen Aussagebereitschaft der Betroffenen, sowie nach Abschluss des Verfahrens, sollte ein gesicherter Aufenthalt gewährt werden. Fundamental für die Identifizierung von Betroffenen und Opferschutz ist die klare Abgrenzung von Menschenhandel zu Schleusung - vor allem bei Behörden - und insgesamt eine größere Aufmerksamkeit bei den Strafverfolgungsbehörden für die Bekämpfung des Menschenhandels. Wir fordern die Entkriminalisierung von Frauen, die von Menschenhandel betroffen sind (bspw. Verstoß gegen das Aufenthaltsgesetz). Die Fachberatungsstellen insistieren, dass die bestehenden Regelungen und Erlasse praktisch umgesetzt werden.

#5 Medizinische Versorgung
Benötigt wird dringend eine finanzielle Sicherung der medizinischen Erstversorgung bei fehlendem Krankenversicherungsschutz bis zur Aufnahme in die Regelversorgung für die betroffenen Frauen. Einige Betroffene müssen zeitnah in medizinische Behandlung, da sie beispielsweise unbehandelte Erkrankungen haben, akute Notfälle oder schwanger sind. Auch die Gewährleistung des Zuganges zu Trauma-Ambulanzen, Psychosozialen Zentren und Sicherung ausreichender Angebote für Krisenintervention sowie Gewährleistung nachhaltiger, psychotherapeutischer Hilfe ist für viele bedeutsam. Die Psychosozialen Zentren müssen personell besser ausgestattet werden. Oft warten Betroffene über ein halbes Jahr auf einen Termin.

#6 Wahlprüfstein Besonderer Schutz für Kinder und Jugendliche
Die Fachberatungsstellen fordern, dass mehr spezielle Schutz- und Hilfestrukturen für Kinder und Jugendliche, die Opfer von Menschenhandel geworden sind, geschaffen bzw. bedarfsgerecht ausgebaut werden. Außerdem fordern wir klare, auf das Kindeswohl ausgerichtete Standards für die Altersfeststellungsverfahren.

#7 Angemessene Entschädigung für Betroffene von Menschenhandel
Die Betroffenen von Menschenhandel haben es oft sehr schwer Zugang zu Entschädigungsleistungen zu erhalten. Daher fordern wir die Schaffung von Übergangsregelungen für Betroffene von Menschenhandel bis zum Inkrafttreten des Sozialen Entschädigungsrechtes 2024, um ihren Anspruch auf Entschädigung durchsetzen zu können. Es sollten außerdem die Möglichkeiten für Entschädigung erweitert werden z.B. Konsequente Gewinnabschöpfung aus Menschenhandelsverfahren und gezielte Verwendung der Gelder für die Betroffenen von Menschenhandel und die Arbeit der spezialisierten Beratungsstellen. Schon längst vonnöten sind Entschädigungszahlungen bzw. Ausgleich für entgangenem Lohn für Betroffene von Menschenhandel ohne, dass diese mit den SGB- Leistungen verrechnet werden.

#8 Unterstützungsstruktur für weitere Formen des Menschenhandels
Es gibt aktuell noch kein flächendeckendes Unterstützungsangebot (inkl. geschützter Unterbringung) für Betroffene aller Formen des Menschenhandels und Ausbeutung unter Berücksichtigung aller Betroffenengruppen (Frauen, Männer, Divers, Transmenschen, Familien). Wir fordern daher, dass neben der sexuellen Ausbeutung auch weitere Ausbeutungsformen - Zwangsarbeit (einschließlich Bettelei), Ausnutzung strafbarer Handlungen und Organhandel (§232 und §233 StGB) - politisch und praktisch adressiert und Hilfen umgesetzt werden. Es bedarf eines Auf- und Ausbaus der Unterstützungsstruktur für Betroffene von den zuletzt genannten Ausbeutungsformen, unabhängig von eventuell schwankenden Nachfragen oder Fallzahlen, bspw. durch Ausweitung der Mandate bestehender Fachberatungsstellen, verbunden mit der Aufstockung ihrer finanziellen und personellen Ressourcen. Ferner müssen in den ländlichen Regionen Südwestfalens und im Münsterland zusätzlich Fachberatungsstellen vorgehalten werden. Auch hier ist die Schaffung von Strukturen unabdingbar, um Betroffene aller Ausbeutungsformen schnell zu identifizieren (spezielle Schulungen, Fortbildungen etc.). Die Fachberatungsstellen verlangen ferner die effektive Umsetzung Non-Punishment Prinzips, denn gerade weniger bekannte Ausbeutungsformen wie bei Ausbeutung der Bettelei und das Ausnutzen strafbarer Handlungen werden häufig nicht erkannt und Betroffenen werden als Beschuldigte gesehen.

Weitere Informationen

Hier der originale Wortlaut der NRW-Vernetzung.

 

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