„Gottes Antlitz hülle dich in Licht“
Predigt von Pfarrerin Angelika Weigt-Blätgen,
leitende Pfarrerin der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen e.V.

Die Liebe Gottes, die Gnade Jesu Christi und die Gemeinschaft des heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen.

Liebe Festgemeinde, Schwestern und Brüder,

„Das ist ja wirklich mal ein Segen“; „nein, darauf liegt kein Segen“; „der Jubilar hat viele Jahre in seinem Verein segensreich gewirkt“; „Sie hat das Zeitliche gesegnet“; „Mairegen bringt Segen“ - Alltagssätze, Formeln, Sprichworte, die nicht nur fromme Christenmenschen benutzen. Ihre Variante lautet viel eher: „an Gottes Segen ist alles gelegen“.

An Schnittpunkten des Lebens, wenn das Leben scheinbar eine Pause macht, wenn der nächste Schritt, der nächste Abschnitt ungewiss, beängstigend ist, oder doch mindestens eine Ermutigung braucht, sprechen wir Segensworte: „Gott segne dich und behüte dich …“. Wenn wir Kinder taufen oder Paare trauen, wenn wir Menschen zu Grabe tragen oder hier im Lina-Oberbäumer-Haus verabschieden, sprechen wir als letzte Worte des Abschieds diesen Segen, am Ende unserer Gottesdienste senden wir Menschen mit diesem Segen in ihren Alltag zurück: „Gott segne dich und behüte dich, Gott lasse leuchten sein Angesicht über dir und sei dir gnädig, Gott erhebe sein Angesicht auf dich und schenke dir Frieden“.

In diesem Wortlaut ist er uns vertraut, der Segen, der einer der ältesten unserer Bibel ist.

Gott beauftragt Mose, dass er diesen Segen über seinen Bruder Aaron und alle seine Nachkommen an Israel weitergeben soll. Die Formel wird von daher auch „aaronitischer Segen“ genannt. Er verbindet uns bis heute mit dem Gott Israels, mit Jüdinnen und Juden, die um die Nähe und das Geleit des Ewigen bitten.

In der Übersetzung, die ich für uns gewählt habe, heißt der ganze Text: „So sollt ihr Israel segnen, ihnen zusagen: Gott segne dich und behüte dich, Gottes Antlitz hülle dich in Licht, und sei dir zugeneigt.
Gottes Antlitz wende sich dir zu, und schenke dir heilsame Ruhe. So sollen sie Israel meinen Namen auflegen, und dann werde ich selbst sie segnen“.

„Gott segne dich und behüte dich; Gottes Antlitz hülle dich in Licht und sei dir zugeneigt“ -
So wie Menschen sich einander zuwenden, sich aufmerksam, freundlich, liebevoll ansehen; wie der warme, liebevolle Blick der Mutter auf das Kind; wie das Strahlen, das von ihrer beider Lächeln ausgeht, so soll Gottes Zuwendung erlebt werden. Sie soll sein wie Licht, das Menschen umhüllt.

Wie der jüdische Theologe und Philosoph Martin Buber wählt die Bibel in gerechter Spreche das feierliche Wort Antlitz. Von Gottes Antlitz kommt Glanz und Licht. Gottes Schöpfung beginnt mit dem Licht:
„Die Erde war Chaos und Wüste, Dunkelheit war da angesichts der Urflut; und Gott bewegte sich angesichts des Wassers und sprach: Es werde Licht – und Licht wurde“. Licht von Gott, das Chaos besiegt; Licht von Gott, das die Angst nimmt. Wenn Gottes Antlitz Menschen in Licht hüllt, werden Dunkelheiten überwunden. Dunkelheiten, die ängstigen, die quälen, die Menschen gefangen halten in Seelenfinsternis (Martin Buber). In die Seelenfinsternis der Menschen gelangt das Licht Gottes - von Angesicht zu Angesicht.

„Gottes Antlitz wende sich dir zu, und er schenke dir heilsame Ruhe“ - die dritte Segensbitte bleibt beim menschlichen Bild Gottes; wiederholt, zweimal in den drei Segenworten wird das Angesicht, das Antlitz Gottes als den Menschen zugewandt, den Menschen gegenüber beschrieben. Die heilsame Ruhe entfaltet das Wort vom Frieden als Schalom.

Heilsame Ruhe: Unbesorgt sein; dem eigenen Leben, den eigenen Gefühlen vertrauen dürfen; getröstet und getrost sein können; Gottes Möglichkeiten vertrauen, ihnen etwas zutrauen; sich in Gott eingebettet wissen - heilsame Ruhe. Menschen, Völker sind heil; geheilt von Krieg, Hunger, Abschreckung.
Nicht Waffenstillstand, heilsame Ruhe im Antlitz Gottes wird zugesagt; nicht beruhigte, ruhig gestellte, in ihr Schicksal still ergebene Menschen sind das Gegenüber Gottes. Aus heilsamer Ruhe schöpfen Menschen Kraft und Mut. In heilsamer Ruhe können Menschen sich anderen zuwenden.
Schalom, heilsame Ruhe umfasst alles, was Menschen brauchen, um gut und ohne Not zu leben: Gesundheit und Sicherheit; Nahrung und wertschätzende Zuwendung; Schalom, heilsame Ruhe meint ein Leben, in dem alle zu ihrem Recht kommen, wo keine Trauer, kein Wehgeschrei und keine Tränen die Menschen erstarren lassen und gefangen halten. Segen, Licht von Gott, Schalom, heilsame Ruhe sind Gottes Antwort auf die Klagen und Bitten derer, die um ihr Recht und um ihr Leben fürchteten.

Der aaronitische Segen ist im 4. Buch Mose ein kleines sprachlich-literarisches Kunstwerk, das bis heute auch fester Bestandteil der Synagogengottesdienste ist.

Gott nimmt Menschen in den Dienst, erteilt ihnen einen Auftrag, eine Arbeitsanweisung. Sie sollen in seinem Namen segnen und ihn immer wieder um seinen Segen bitten. Und indem Menschen in Gottes Namen Gott um Segen bitten, bewirken sie, dass Gott segnet. Der Fülle Gottes entspricht die Fülle des Segens; der Fülle des Segens entspricht die Fülle der Begabungen, der Gaben, die Menschen erhalten, um den Segen Gottes auszurichten, weiterzutragen. Menschen, die sich mit Gott verbunden wissen, haben den Segen weiterzugeben. So weiterzugeben, wie Gott ihn dem Mose, wie Mose ihn dem Aaron, wie die Jüdinnen und Juden beim Sabbatmahl und in der Synagoge; wie Jesus ihn empfangen hat von seiner Mutter, von den Priestern im Tempel, wie wir ihn von Jesus empfangen haben.

„Segnen, segnen, nichts als segnen, bis eins das andere mit in den Himmel bringt“ - so heißt es in einem jüdischen Hochzeitssegen.

Segnen, segnen, nichts als segnen - das ist Zusage und Herausforderung, wenn wir den Trinitatis-Sonntag und die Wiedereinweihung des Lina-Oberbäumer-Hauses unter diesem Text bedenken.
Doch damit werden wir nicht etwa Besitzerinnen einer Zauberformel; einer Zauberformel, die jede Begegnung in diesem Haus gut und segensreich werden lässt, die alle ständig verzückt und entrückt lächeln lässt. Nein, so ist das Leben nicht, auch nicht hier bei uns. Auch wir haben mit Überforderung und Misstrauen, mit Mutlosigkeit und Angst, mit verdunkelten Erinnerungen und mit verhärteten Seelen zu tun. Mit Rahmenbedingungen, in denen das Strahlen und Segnen schwer ist und weder in Dokumentationen noch in Verfahrensanweisungen zu fassen ist.

Menschliches Segnen von Aaron an, gründet in göttlichem Segenswirken. Segen wird von Gott gewirkt, nicht von Formeln, Bildern, Gesten. Sie können Menschen öffnen für das Wirken Gottes, nicht aber Gottes Wirken auslösen. Menschliches Segnen gründet im Segenswirken Gottes und es hat Gott zum Maßstab. Menschliches Segnen steht und fällt damit, dass es ihm um den Segen im Namen und im Auftrag Gottes geht. Dieses Auftrages haben wir uns zu vergewissern, immer und immer wieder und gerade an Schnittpunkten unseres Arbeitslebens, wenn es um ein neues Haus und seine Menschen geht.

Ein Segen für andere zu werden erschöpft sich nicht darin, ihnen den Segen Gottes zuzusprechen. Wirksames Segnen verbindet sich mit einer Lebensgestaltung, die dem Gesegneten den Segen auch gönnt, in ganzer Konsequenz. Wenn wir von Sterbenden oder Verstorbenen sagen, sie haben das Zeitliche gesegnet, dann heißt das auch, dass sie über den Tod hinaus den Zurückbleibenden ohne Neid, ohne Missgunst, ohne Fluch oder Anspruch eine volle Entfaltung ihrer Lebensmöglichkeiten zusprechen.
Auf dem Weg in die Ewigkeit den Anderen den Segen des Zeitlichen zusprechen, gönnen.

Wir merken: Segen ist nichts für fromme Gefühle. Wer anderen den Segen gönnt, sorgt für eine gerechte Verteilung der Segensgüter, die Gott in Fülle bereitstellt. Wer anderen den Segen gönnt, zieht sie in das Licht des Antlitzes Gottes. Ja, das ist wohl die Aufgabe der Christinnen und Christen: Segnen, segnen, nichts als segnen - in unserem Umgang miteinander, in unserem diakonischen und politischen Handeln, in unserem Alltag und in unseren Gottesdiensten; immer dann, wenn wir Menschen ansehen und in ihren Gesichtern den würdevollen Glanz Gottes widergespiegelt finden. Und das alles in dem Wissen, dass Gott die Freiheit hat, Segen zu gewähren oder zu verweigern. Keine menschlichen Segenswünsche bewirken oder verhindern göttliches Segnen. Wenn es gut geht, kann er durch unsere Hände fließen, durch unsere Worte an ihr Ziel kommen. Wenn es gut geht, wird ein Lächeln, ein Wort, eine Geste, ein Blick zum Segen; wenn es gut geht, entsteht ein Segensaustausch, eine Segenskette - von Angesicht zu Angesicht. Wenn es gut geht, finden wir Orte und Zeiten, uns in die Generationenfolge der Gesegneten von Mose an zu stellen, uns unsere Sehnsucht bewusst zu machen nach heilem, gesegnetem Leben und uns zu erinnern daran, was Gott gewollt hat, als er zu Mose sprach:

„Gott sprach zu Mose: Sprich zu Aaron und seinen Nachkommen: So sollt ihr Israel segnen, ihnen zusagen: Gott segne dich und behüte dich. Gottes Antlitz hülle dich in Licht, und sei dir zugeneigt.
Gottes Antlitz wende sich dir zu, und schenke dir heilsame Ruhe. So sollen sie Israel meinen Namen auflegen, und dann werde ich selbst sie segnen.“

Amen.