Predigt von Pfarrerin Angelika Weigt-Blätgen
100 Jahre Frauenheim Wengern
Predigt zu Johannes 10, 11-16; 27-30
Liebe Festgemeinde, Schwestern und Brüder!
„Weil ich Jesu Schäflein bin, freu ich mich nur immerhin über meinen guten Hirten, der mich wohl weiß zu bewirten, der mich liebet, der mich kennt, und bei meinem Namen nennt."
Im Kindergottesdienst und im Kindergarten wurde dieses Lied gesungen - können Sie sich erinnern? Besonders gerne wurde es dann gesungen, wenn die Geburtstagskinder des Monats sich am Altar versammelten und beglückwünscht wurden. Es gibt jemanden, der es gut mit dir meint, der dich liebt, der genau dich meint mit seiner Liebe, weil er dich kennt, ja sogar deinen Namen weiß - so die Botschaft. Wie gut, wenn Kinder darauf vertrauen konnten; wie gut, wenn es sich mit ihren Alltagserfahrungen deckte. Für manche mag das Lied auch eine Zuflucht gewesen sein, eine Fluchtmöglichkeit in eine andere Wirklichkeit als die, die sie real erlebten.
„Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln, ...er weidet mich, er führt mich, er tröstet mich, er beschützt mich ... bei ihm bin ich zu Hause - immer, mein Leben lang" - ins Konfirmandenalter gekommen und erwachsen geworden, wurde es für viele von uns eher der 23. Psalm, der in unseren Köpfen und Herzen und Seelen das Vertrauen auf Gott mit dem Bild des Hirten verband.
Ich bin der gute Hirte und ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich ... meine Schafe hören meine Stimme und ich kenne sie und sie folgen mir ..., niemand wird sie aus meiner Hand reißen.
Die Gemeinde, aus der das Johannesevangelium entstand, nimmt die alttestamentlichen Bilder der Propheten und der Psalmen auf, die das Verhältnis Israels zu seinem Gott als das Verhältnis von Herde und Hirte als ein liebevolles, bergendes, schützendes beschreiben. Der gute Hirte geht den gefährdeten und verstreuten Schafen nach; er trägt die Lämmer auf seiner Schulter oder an seiner Brust. Gott selbst musste dieses Hirtenamt für seine Menschen übernehmen, weil die Könige, die es eigentlich führen und schützen sollten, versagt hatten.,,lch willmeine Schafe weiden und ich will sie lagern lassen; spricht Gott der Herr. „Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurück bringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken", heißt es beim Propheten Ezechiel.
Von den Schafen wird gesagt, dass sie die Stimme ihres Hirten kennen und ihm folgen - im Johannesevangelium ebenso wie bei den Propheten. Liebevolle Verantwortung auf der einen und Vertrauen auf der anderen Seite begründen das Verhältnis von Hirt und Schafen, von Gott und Israel, von Jesus und der Nachfolgegemeinschaft.
Jesus jedoch ist nicht nur der gute Hirte, der die Schwachen, Verirrten und Verlorenen sucht, nein er ist selbst schwach und verloren als der Gekreuzigte, verlassen von Gott und den Menschen -„mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?". Jesus ist selbst zum Bruder aller geworden, die um Leben und Würde kämpfen, die Heimat suchen, die ausgegrenzt und verfolgt werden, zu einem Bruder derer am Rande, zum Menschenbruder, zum Mitmenschen.
Ostern dann der Aufstand gegen den Tod. Ostern, als Jesus gegen den Tod aufsteht, kann Jesus wie Gott selbst, zu einem guten Hirten werden, weil er genau erfahren und erlitten hat, wie verloren und verletzlich seine Menschengeschwister, seine Schafe, sind.
Die Schafe, die die Stimme des Hirten hören und kennen, sind wir alle, die Nachfolgegemein-schaft. Wir können wissen, dass wir einem anderen Hirten nachfolgen, einem anderen Vorbild folgen als es sich die Herren der Welt so vorstellen, die Machthabenden, die die bestimmen wollen, wer die Mitte ist und wer am Rande. Wir können wissen, dass wir einem anderen Hirten folgen als denen, die nur ihr eigenes Durchkommen oder ihren eigenen Vorteil sehen, Mietlinge werden sie bei Johannes genannt.
Zugleich ist das Hirtenamt in der Nachfolge Jesu ein Gemeinschaftsamt, nicht nur ein Amt der Würdenträger, der Bischöfe mit dem Hirtenstab; nein das Hirtenamt ist ein Gemeinschaftsamt der Gemeinde, der Christinnen und Christen. „Was ihr getan habt einem meiner geringsten Geschwister – den Hungrigen, Durstigen, Nackten, Kranken, Fremden, Gefangenen - das habt ihr mir getan".
Hirt und Schaf - so schön und so trostreich dieses Bild ist, es ist kein Bild für die Kuschelecke oder für Bilder wie die Romantik sie so gerne malte.
Gott ist mit seinem Volk, mit seinen Menschen unterwegs. Er befreit sie aus der Gefangenschaft, er bewahrt sie in der Wüste vor Hunger und Durst und vor Verzweiflung, er gibt ihnen in der Gefangenschaft durch die Propheten Hoffnung auf Rückkehr in die Heimat, er hält ihren Glauben an ein Reich der Gerechtigkeit und des Friedens wach. Schließlich kommt er in Jesus Christus, dem Gesandten seiner Liebe und wird zu einem Mitmenschen. Seitdem ist die Gemeinde Jesu Christi in seiner Nachfolge und in seinem Auftrag mit Menschen unterwegs, aneinander gewiesen, füreinander verantwortlich.
Mit Menschen unterwegs, oder auch: Mitmenschen unterwegs in der Nachfolgegemeinschaft, als Christinnen und Christen, als Evangelische Frauenhilfe hier im Frauenheim.
„Weil ich Jesu Schäflein bin, freu ich mich nur immerhin über meinen großen Hirten, der mich wohl weiß zu bewirten, der mich liebet, der mich kennt, und bei meinem Namen nennt."
Die Frauen und Mädchen, die in den ersten Jahrzehnten hier im Frauenheim lebten, hier ihre Kinder bekamen, hier arbeiteten und oftmals ohne ihre Kinder wieder gingen, weil sie für unfähig gehalten wurden, mit ihnen zusammen zu leben, sie hatten kaum je erlebt, dass sie geliebt und behütet, getröstet wurden. Für sie mag das Lied oder der 23. Psalm, den sie gewiss in den Andachten hier im Hause kennenlernten, eine Zuflucht gewesen sein, ein Bild ihrer Sehnsucht, ein Gegenentwurf. Als gefährdet, verwahrlost, gefallen, moralisch unreif, unsittlich wurden sie bezeichnet-von den Behörden, die sie dem Frauenheim in Obhut gaben, oder von Menschen, die sie aus dem Weg haben wollten. Viele hatten Gewalt erfahren, waren missbraucht und ausgebeutet worden.
Auch wenn die Vorstellungen von Erziehung und Fürsorge hier im Hause geprägt waren von der jeweiligen Zeit, so mögen doch viele Frauen hier, vor allem durch die Schwestern der Schwesternschaft, zum ersten Mal in ihrem Leben Schutz und Hilfe und Zuwendung erfahren haben. Briefe und Bilder erzählen Geschichten von tragfähigen Bindungen. Mitmenschen unterwegs.
Die Aufmerksamkeit der Evangelischen Frauenhilfe für alle Formen der Gewalt, unser Engagement in der Anti-Gewalt-Arbeit, die große Bedeutung, die dem Thema Gewalt heute hier in der Einrichtung zugeschrieben wird, hat in der Geschichte und in den Lebensgeschichten der Menschen, mit denen wir unterwegs waren, ihre Wurzeln.
Bei aller Modernisierung und Professionalisierung, bei allen Hilfeplangesprächen und Leistungstypen gilt auch heute: Menschen brauchen einen Ort, an dem sie sich beheimaten können - auf Zeit oder auf Dauer - einen Ort, an dem sie sich geschützt und sicher fühlen können. Manche haben selbst die Sehnsucht nach einem solchen Ort verloren; haben keine Bilder, keine Anhaltspunkte für zu-Hause-sein - weder bei Gott noch bei den Menschen.
Menschen brauchen einen Ort und sie brauchen Menschen, die sich kümmern, die ihren Namen und ihre Geschichte kennen, Menschen, die mitgehen, die ihnen ein Angebot zum Leben machen - mit Gott und mit den Menschen.
Und wenn Geschichten und Bilder, Psalmen und Lieder von dem einen Hirten und der Herde, zu der alle gehören - egal aus welchem Stall - wenn sie helfen, solche Orte zu schaffen und Menschen so miteinander unterwegs sein zu lassen, dann sollten wir sie erzählen, malen, singen - sie können trösten, heilen und tragen, sie können zu einer verwegenen Zuversicht ermutigen.
Amen