Angelika Weigt-Blätgen,
leitende Pfarrerin der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen e.V.

Predigt im Gottesdienst zum Abschluss des Oasentages 2017 für Leiterinnen und Bezirksfrauen
End-lich frei. 500 Jahre Reformation, 111 Jahre Evangelische Frauenhilfe in Westfalen

Wo aber der Geist Gottes ist, da ist Freiheit (2. Kor. 3,17)

Liebe Frauenhilfegemeinde,

„Unter den Wolken wird's mit der Freiheit langsam schwer. Wenn wir hier und heute alle wie betäubt sind. Unter den Wolken gibt's keine Starterlaubnis mehr für all die Träume, all unsere Träume" - so singen die Toten Hosen auf ihrem neuen Album in einer Hymne an und über die Freiheit - voller Nachdenklichkeit und voller Trotz angesichts der politischen Entwicklungen um uns herum, die wir alle mit Sorge betrachten.
Die Wolken, die weite Unendlichkeit des Himmels - sie lassen Bilder der Sehnsucht nach Freiheit, nach Befreiung aus irdischen Zwängen, aus der Enge des eigenen Lebens mit all seinen Herausforderungen und alltäglichen Abläufen entstehen -„über den Wolken, muss die Freiheit wohl grenzenlos sein“.
Ja, Freiheit ist ein Wunsch der Seele (Sprichwort) und doch muss sie „unter den Wolken" gelebt und erstritten, bewahrt und gehütet, erfahren und geliebt werden; das große Wort Freiheit muss in den Tätigkeitswörtern zu finden sein (St. J. Lec).

So zeichnet auch unser Bild eine Bewegung von der Erde zum Himmel hin, bleibt unter den Wolken, in denen sich jedoch mit dem Regenbogen das himmlische Hoffnungs- und Sehnsuchtsbild zeigt; zaghaft, wie hingehaucht - aber dennoch.
„End-lich frei"- das aufatmende, befreit seufzende „endlich" steckt ebenso in diesem Schriftzug wie die Begrenztheit der Freiheit. Sie ist endlich, sie hat ihre Grenzen, sie muss sich befragen lassen, zumal von Christinnen, die die Reformation und das Jubiläum der Frauenhilfe feiern.

„Grundlage aller Frauenhilfearbeit ist die Botschaft der Bibel und das Vertrauen auf die Verheißungen des Evangeliums von Jesus Christus" (§ 2 der Satzung der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen e.V.) - auch wenn wir nach den Möglichkeiten und Grenzen der Freiheit fragen, befragen wir zunächst die Botschaft der Bibel, das Evangelium.

Wir suchen selbstverständlich zunächst nach Tätigkeitswörtern in der Bibel, die davon erzählen, welche Erfahrungen hinter den großartigen Freiheitssätzen der hebräischen Bibel und des Neuen Testaments stehen:
„Ich habe euch heute das Leben und den Tod vorgelegt, den Segen und den Fluch. Wähle das Leben, damit du lebst und deine Nachkommen auch leben können! Liebe Adonaj, deine Gottheit! Höre auf ihre Stimme und hänge an ihr, denn sie ist dein Leben." (5. Mose 30,19 ff)
„Der Herr schafft Recht denen, die Gewalt leiden, er speiset die Hungrigen. Der Herr macht die Gefangenen frei" (Psalm 146,7); „Gott hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen, dass sie frei und ledig sein sollen". (Jesaja 61,1);
„Wo aber der Geist Gottes ist, da ist Freiheit" (2. Kor.3,17);
„Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen" (Galater 5,1).
Gott hat Israel befreit, befreit aus Ägypten. Gott hat Israel mit den Geboten die Wahlfreiheit gegeben. Sie hören richtig. Gebot und Freiheit gehören zusammen, ebenso wie Schöpfung und Freiheit. Als Bild Gottes geschaffen, männlich und weiblich, wird den Menschen Gestaltungsfreiheit eingeräumt: sie sollen die Erde bebauen und bewahren, sie sollen fruchtbar sein.
Als aus der Sklaverei Befreite haben sie die Wahl, die Wahl, sich für ein Leben zu entscheiden, dass die gewonnene Freiheit nicht dadurch verspielt, dass sie sich in die Sklaverei anderer Götter, anderer Machthaber begeben. Gestaltungs- und Wahlfreiheit sind in der Bibel immer auch mit Verantwortung verbunden; Verantwortung für die Schöpfung, Verantwortung für die Mitgeschöpfe, Verantwortung für das Zusammenleben, Verantwortung für diejenigen, die Gewalt leiden, hungern, gefangen sind; Verantwortung für die, deren Herzen zerbrochen sind; die an sich, an Gott und an den Menschen verzweifelt sind.
Gott will Menschen, denen bewusst ist, dass sie ihr Leben nicht sich selbst verdanken, dass sie angewiesen sind auf Gott und aufeinander; Gott will Menschen, denen bewusst ist, dass sie aneinander gewiesen sind, dass sie abhängig bleiben voneinander, weil sie gemeinsam in die Verantwortung für Gottes Schöpfung genommen wurden.
In diesem Bewusstsein können sie frei und selbständig entscheiden.
„Wo aber der Geist Gottes ist, da ist Freiheit", da sind freie Gedanken und Entscheidungen erlaubt, da zählen offene Herzen und verantwortete Taten. Freiheit wird uns von Gott geschenkt, von Gott zugetraut und von Gott zugemutet - end-lich frei, unsere Verantwortung wahrzunehmen, unter den Wolken.

Selbst die Kreuze auf unserem Bild werden zu Freiheitszeichen. Sie stehen für die Verantwortung, die Jesus übernommen hat für die Kranken, die Schwachen, die Hungrigen, für die Gefangenen, die Unterdrückten, die zu Unrecht Verdächtigten und Verfolgten, für die an sich und ihren Lebensentscheidungen Zweifelnden. Die Kreuze stehen dafür, dass Jesus für das Leben aufgestanden ist, gegen den Tod. Sie sagen uns: „Zur Freiheit hat euch Christus befreit", deshalb steht jetzt fest mit beiden Beinen auf dem Boden; deshalb steht jetzt fest im Glauben, dass ihr in der Nachfolge zwar Verantwortung tragt, aber dennoch befreit aufspielen könnt. Christus hat euch zur Freiheit befreit, ihr müsst sie euch nicht verdienen durch gute Werke oder Opfer. Ihr müsst euch nicht ständig fragen, ob ihr gut oder fromm genug seid. Ihr seid so frei, weil Jesus euch entlastet hat.

Wie selbstverständlich sich das alles anhört. Wie selbstverständlich wir davon ausgehen, dass die Bibel zur Befragung frei gegeben ist, dass wir sie auslegen, uns aneignen dürfen.
Was bei den Rabbinen eine jahrhundertealte Tradition hat, ist uns durch die Reformation eröffnet worden; die Bibel in der Muttersprache, in der Sprache der Mütter im Glauben, frei gegeben zur Befragung durch alle Glaubenden und Suchenden und Zweifelnden.
Wie selbstverständlich wir hören, dass Jesus uns entlastet hat, unser Leben in
der Nachfolge führen zu dürfen, ohne uns unterordnen zu müssen unter von Menschen gemachten Druck. Wie sehr dieser Druck sowohl von der weltlichen und kirchlichen Obrigkeit ausgeübt wurde, ist den Briefwechseln zu entnehmen, die Unterstützerinnen und Unterstützer der reformatorischen Bewegung geführt haben. Druck und Androhung von weltlichen und ewigen Strafen durchziehen die Schreiben ebenso wie persönliche Diffamierungen.
Jesus hingegen lädt alle ein, die sich abmühen und belastet sind. Bei ihm sollen wir Ruhe finden für unser Leben (Matthäus 11,25-30 nach der BigS). Seine Weisungen sollen nicht belasten, nicht unterdrücken, sondern frei machen. „Mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht" - so kennen Sie diesen Text in der Übersetzung
Luthers. Wie die Gebote so sind auch die Weisungen Jesu.
Was die Evangelien als Botschaft Jesu weitergeben und von Paulus so sorgfältig für die Gemeinden durchdrungen und ausgelegt wurde - wie lange wurde es den Menschen vorenthalten, verstellt; wie mühsam und streitbar legten Männer und Frauen der Reformation sie wieder frei.
Sie nicht wieder zustauben oder verschütten zu lassen ist reformatorische Aufgabe auch nach 500 Jahren und darüber hinaus.

„Grundlage aller Frauenhilfearbeit ist die Botschaft der Bibel und das Vertrauen auf die Verheißungen des Evangeliums von Jesus Christus. Die Zuwendung Gottes zu den Menschen wirkt als Befreiungs- und Heilungsgeschehen in die Lebenssituation von Frauen hinein. Auf dieser Grundlage erfahren Frauen in ihren Gruppen Gemeinschaft sowie Begleitung in ihrem Glauben und Leben; sie werden ermutigt und gefördert, Verantwortung in Kirche und Gesellschaft zu übernehmen."

Damit lässt sich Frauenhilfearbeit unter den Wolken gestalten. Das ist es, was Frauenhilfearbeit ausmacht - seit 111 Jahren und in der Zukunft.
Die Bibel befragen, Nahrung finden für unsere Vision von der Fülle des Lebens für alle Menschen - das machen wir in Bibelarbeiten, Andachten und Gottesdiensten. In der Gemeinschaft der Glaubenden wissen wir uns aneinander gewiesen und füreinander verantwortlich.

Sie nehmen diese Verantwortung als Bezirksfrauen wahr, wenn sie Besuche machen, an Krankenbetten sitzen; trösten, wenn eine trauert; zuhören, wenn eine ihre Last nicht alleine tragen kann.
Sie nehmen diese Verantwortung als Leiterinnen wahr, wenn sie Sorge dafür tragen, dass ihre Gruppe ihre Mitte nicht verliert.
Sie alle sind Teil der Frauenhilfegemeinde, die ihre Verantwortung wahrnimmt, für von Gewalt und Ausbeutung betroffene Frauen und Kinder, für Menschen mit geistigen und psychischen Behinderungen, für Alte und Pflegebedürftige.
Sie alle sind Teil der Frauenhilfegemeinde, die sich einmischt, die sich nicht scheut, schwierige politische und gesellschaftlich kontroverse Themen aufzunehmen und um Positionen zu streiten.

Ganz schön anstrengend - das Christinnenleben unter den Wolken.
Da hilft es, wenn wir uns gegenseitig Freiräume zugestehen, wenn wir uns nicht gegenseitig festlegen auf bestimmte Rollenmuster, auf bestimmte zu erbringende Leistungen, wenn wir uns nicht gegenseitig mit Erwartungen unter Druck setzen. Warum sollten wir einander weniger Freiheiten einräumen, weniger Möglichkeiten zulassen, als Gott selbst uns einräumt und zulässt.
Unter den Wolken befreit aufspielen und dabei den Himmel nicht aus dem Blick verlieren.
„Wer die Erde nicht berührt, kann den Himmel nicht erreichen" - Elisabeth Moltmann-Wendel hat uns mit dem Titel ihrer Autobiographie Standort und Richtung gewiesen: unter den Wolken himmelwärts.
Die Träume, die Visionen, die Phantasien für einen neuen Himmel und eine neue Erde, wie Gott sie verheißen hat, lebendig halten; die Hoffnung, dass Himmel und Erde sich berühren, ganz zart, aber so, dass wir es sehen können, dafür unsere Herzen, unsere Seelen und unseren Verstand offen halten, dazu helfe uns Gottes Geist – denn wo der Geist Gottes ist, da ist Freiheit.
Amen

Nachtrag:
„Unter den Wolken geben wir die Freiheit noch nicht her, weil sie uns heute alles bedeutet. Unter den Wolken machen wir uns selbst ein Lichtermeer aus all den Träumen, all unsren Träumen. Schau wie sie leuchten" Die Toten Hosen.