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Altenpflege - ein Beruf mit Zukunft ?!
Festvortrag zum 20-jährigen Bestehen des Fachseminars für Altenpflege der Westfälischen Frauenhilfe in Soest, 9.Juni 2009
Prof. Dr. Martin Sauer, Bielefeld

„Altenpflege - ein Beruf mit vielen Perspektiven“ - heißt es in einem Info-Prospekt der Frankfurter Pflegeoffensive. Und weiter: „Das ist es, was diesen Beruf so besonders anziehend macht. Altenpflege ist heute ein professioneller Ausbildungsberuf mit großen Entwicklungschancen. Vor allem aber macht er Sinn und gibt Sinn. Er betrifft das Leben wie kaum ein anderer und ist deshalb eine echte Alternative in unserer technisierten und rationellen Arbeitswelt.“

„Es gibt wenige Berufe, denen ein so schlechtes Image anhaftet wie der Altenpflege. Unzufriedenheit sowie starke körperliche und psychische Belastungen bedingen sich anscheinend wechselseitig. … Der Altenpflege laufen die Mitarbeiter davon.“ (KDA 2002).

„Infolge des demographischen Wandels und der steigenden Lebenserwartung ist in den kommenden Jahren mit einer zunehmenden Zahl von Hochaltrigen zu rechnen, die auf Pflege angewiesen sein werden. Vor diesem Hintergrund ist die Bedeutung der Altenpflege nicht hoch genug einzuschätzen. Denn immer mehr Menschen werden zukünftig auf professionelle Hilfe angewiesen sein. Der Altenpflegeberuf ist daher ein Beruf der Zukunft.“ (Seniorenministerin Bergmann 2001).

Drei Aussagen, die ein wenig das Thema beleuchten, um das es heute gehen soll.

Guten Tag, meine Damen und Herren, liebe Geburtstagsgäste, lieber Herr Linnemann, liebe Frau Weigt-Blätgen, und Sie alle, ehemalige und gegenwärtige Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer, Dozentinnen und Dozenten, Vertreter von Praxiseinrichtungen, Freunde und Förderer des Fachseminars. Zu Ihrem Jubiläum möchte ich Ihnen zunächst herzlich gratulieren. 20 Jahre evangelische Altenpflegeausbildung in Soest - hier ist heute noch keine alte und ehrwürdige Institution zu feiern, aber 20 Jahre sind doch ein Zeitraum, nach dem es sich lohnt, innezuhalten, mit Anerkennung zurückzublicken auf, was hier entstanden ist und zugleich voll Energie und Gottvertrauen die kommenden Jahre in den Blick zu nehmen.

Hinter Ihnen liegen 20 bewegte Jahre. Ein Auf und Ab der Entwicklungen, verbunden mit einem Auf und Ab der Gefühle. Und, das wird man wohl ohne besondere prophetische Qualitäten sagen können, die nächsten 20 Jahre, die vor Ihnen, vor uns liegen, werden vermutlich nicht weniger bewegt und bewegend sein.

„Altenpflege - ein Beruf mit Zukunft?!“ ist mir als Thema gestellt. Ich möchte mich diesem Thema in 3 Schritten nähern:
1. Rückschau: Vor 20 Jahren - Erinnerung an die AP-Ausbildung im Jahr 1989
2. Bestandsaufnahme heute: Fehlende Sicherheit - unklare Perspektiven
3. Perspektive: Altenpflege - ein Beruf mit Zukunft?

1. Rückschau:
Vor 20 Jahren - Erinnerungen an die Lage der AP-Ausbildung im Jahr 1989

Die Altenpflege ist ein relativ junger Beruf - und es ist einer, den es nur in Deutschland gibt. Seit Ende der 50er Jahre wurden zunächst ohne gesetzliche Grundlagen Altenpflegekräfte in kurzen Anlernkursen ausgebildet, es folgte eine 1-jährige Ausbildung mit gesetzlichen Regelungen der einzelnen Bundesländer. Als das Fachseminar hier in Soest eröffnet wurde, galt in NRW die 3-jährige Ausbildung, von der das 3. Jahr aber noch als Anerkennungsjahr gestaltet war - d.h. in diesem 3. Jahr wurde schon mehr oder weniger ‚normal’ gearbeitet. Erst Mitte der 90er Jahre wurde in NRW die Altenpflege zu einer tatsächlich regulär 3-jährigen Ausbildung umgestaltet.
Damit wurde erstmals eine formale Gleichstellung mit der Krankenpflege-Ausbildung erreicht. Bis zu diesem Zeitpunkt galt die Krankenpflege immer als anspruchsvoller und angesehener. Noch in den 80er Jahren wurden für die Aufgaben beispielsweise der Stations- oder Pflegedienstleitung meist Krankenpflege-Kräfte bevorzugt.
Mit der Neuregelung von 1994 überstieg der Umfang des theoretischen Unterrichts mit weit über 2.000 Stunden nun deutlich den der Krankenpflegeausbildung (mit damals 1.650 Std.).

Einige weitere Stichworte:

  • Die Altenpflege macht in diesen Jahren einem deutlichen Professionalisierungsschub durch die Auseinandersetzung mit Pflegetheorien. Insbesondere die Konzepte der Aktivitäten des täglichen Lebens nach Nancy Rooper und Liliane Juchli und später das davon abgeleitete der ‚Aktivitäten und existentiellen Erfahrungen des Lebens’ - AEDL - nach Monika Krohwinkel - bestimmen mehr und mehr Aus- und Fortbildung in der Altenpflege.
    Im beruflichen Alltag spielen Pflegetheorien dagegen eine eher untergeordnete Rolle.
  • Individuelle und geplante Pflege wird zum Standard - und bedeutet viel Schreibarbeit.
  • Apropos Standard: Überall wird an Pflegestandards gearbeitet. Qualitätszirkel bilden sich. Auch die Gesetzgebung schreibt in den folgenden Jahren Qualitätssicherungssysteme vor und lässt sie überprüfen. Ob die Pflege dadurch besser geworden ist, sei dahingestellt.
  • „Qualität“, „Q-Entwicklung“, „Q-Management“ werden zu zentralen Begriffen.
    Fast hat man das Gefühl, das das Dokumentieren der Qualität wichtiger wird als die Tatsache, dass sich Menschen wohl- und angenommen fühlen.
    Zwar lassen sich manche positive Entwicklungen durch Q-Management beobachten. Daneben stehen aber auch Beobachtungen, dass die dokumentierte Qualität wichtiger als die erlebbare und erlebte Q ist.

Schon vor der gesetzlichen Neuregelung im Jahre 1994 hatte sich ein relativ klares und eigenständiges Berufsbild der Altenpflege herausgebildet: Ein ‚sozialpflegerischer Beruf’ mit hohen Anforderungen sowohl an die pflegerischen, psychologischen als auch sozialen Kompetenzen. Eine Altenpflegerin muss in der Lage sein, sowohl medizinische Behandlungspflege als auch sozialpflegerische und psychiatrische Betreuung selbständig und im Zusammenwirken mit anderen Berufsgruppen zu planen, umzusetzen und zu dokumentieren. Sie muss den Alltag alter Menschen auch unter den von Alter und Krankheit bedingten Einschränkungen möglichst anregend und lebenswert gestalten helfen. Unter Beachtung der individuellen Biografie soll sie eine Kontinuität der Lebensgeschichte ermöglichen. Sie arbeitet rehabilitativ - beispielsweise bei Menschen nach Apoplex -, beugt präventiv weiteren Abbauprozessen vor, begleitet und versorgt in palliativer Pflege sterbende Menschen und ihre Angehörigen. Im Laufe der Jahre nahm die Spannbreite der Erwartungen zu. Besonders nach Einführung der Pflegeversicherung wurden in den Pflegeeinrichtungen überwiegend entweder gerontopsychiatrisch veränderte, demente Menschen aufgenommen oder multimorbide Pflegebedürftige mit hohem Pflegeaufwand und relativ kurzer Verweildauer. Angesichts der vielfältigen Krankheitsbilder nahmen daher Unterrichtsinhalte wie Basteln mit alten Menschen, Fest- und Feiergestaltung oder überhaupt Beschäftigungsangebote, die früher mit mehreren hundert Stunden in den Lehrplänen vorgesehen waren, immer weniger Raum in der Ausbildung ein.

  • Zu Beginn des neuen Jahrhunderts gab es erneut eine grundlegende gesetzliche Veränderung: Nach langen Auseinandersetzungen, u.a. vor dem Bundesverfassungsgericht, gilt seit 2003 erstmalig ein bundeseinheitliches Ausbildungs- und Berufsrecht für die Altenpflege.
    Parallel dazu wurde auch das Ausbildungsgesetz für die Krankenpflege verändert. Formal sind damit beide Berufe gleichwertig - bezogen auf die Anzahl der Ausbildungsstunden in Theorie und Praxis, auf die akademische Qualifikation der Lehrkräfte und auf den didaktischen Ansatz: Statt in Fächern wird nun in Lernfeldern unterrichtet. Ausgegangen wird dabei von komplexen Praxissituationen - z.B. die Aufnahme eines Bewohners. Die Situation wird in einer Lerneinheit, die 40 bis über 100 Stunden umfassen kann, aus der Sicht der verschiedenen Fächer bearbeitet. Die Lehrerin soll dabei weniger als Dozierende, sondern mehr als Organisatorin des Lernprozesses wirken.
    Statt Frontalunterricht klassischer Prägung - wenn alles schläft und einer spricht, solches nennt an Unterricht - soll viel durch Eigen- und Gruppenarbeit erarbeitet werden.
  • Neu ist auch, dass es in beiden Pflegegesetzen nun Öffnungsklauseln gibt, die neue Formen der Ausbildung - z.B. in einer gemeinsamen generalistischen Pflegeausbildung - ermöglichen. Die Ausbildung in der Altenpflegehilfe wird allerdings weiterhin auf Landesebene geregelt. Mit diesem kurzen historischen Rückblick sind wir im 2. Teil - der Gegenwart - angekommen.

2. Bestandsaufnahme: Heute - Hoher Bedarf bei unsicherem Umfeld
Unser kurzer Rückblick könnte den Eindruck erwecken: Mit der Etablierung der bundeseinheitlichen Altenpflegeausbildung wurde eine richtige Erfolgsgeschichte geschrieben. "Das Bundesaltenpflegegesetz schafft die Voraussetzung für eine optimale Ausbildung von Altenpflegerinnen und Altenpflegern", hatte seinerzeit z.B. der brandenburgische Sozialminister Günter Baaske gesagt. Das trifft sicher für einzelne Fachseminare zu, an denen mit viel Engagement gearbeitet wird - aber leider nicht für die Berufsausbildung als solche. Ich möchte das an 3 Stichworten illustrieren:

(1) Stichwort Finanzierung:
Normalerweise gehen Auszubildende - egal ob Klempner, Bäcker oder Versicherungskaufleute - in eine staatliche Berufsschule und werden dort von beamteten oder fest angestellten Lehrkräften unterrichtet. Die Schulen sind damit bei Schwankungen in den Schülerzahlen relativ abgesichert. Zuständig ist das Schulministerium. Fachseminare für Altenpflege dagegen werden nicht wie staatliche Berufsschulen finanziert, sondern erhalten als ‚Schulen der besonderen Art’ eine Projektförderung pro tatsächlich besetztem Ausbildungsplatz. Ob ein Schulplatz besetzt werden kann, hängt aber nicht nur von der Zahl der geeigneten Bewerberinnen und Bewerber ab, sondern auch davon, ob es genug bezahlte Ausbildungsplätze in kooperierenden Ausbildungseinrichtungen gibt. Denn nur, wenn ein geeigneter Ausbildungsplatz nachgewiesen ist, darf auch ein Schulvertrag geschlossen werden. An Ausbildungsplätzen mangelt es aber vielerorts, und auch die hiesige Schule klagt trotz intensiver Anstrengungen darüber.

Der Mangel an Ausbildungsplätzen führt direkt zur finanziellen Misere der Schulen und zur akuten Existenzgefährdung. Hinzu kommt, dass in NRW die staatlichen Zuwendungen immer mehr gekürzt wurden: Waren es vor zwölf Jahren umgerechnet ca. 350,-- € pro SchülerIn und Monat und später dann immerhin noch € 317,--, so sank der Zuschuss nun auf € 280,-- - und das bei steigenden Gehältern und höheren Ausbildungsanforderungen bei den Lehrkräften. Die politische Verantwortung dafür trägt nicht das Schul-, sondern das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales.
Bei Schulen, die die für eine gute Ausbildung nötigen personellen und sächlichen Voraussetzungen bieten, kann sich schnell ein jährliches Defizit von bis zu € 100.000 ergeben. Die sind dann vom Schulträger aufzubringen. Die Folgen sind an vielen Schulen spürbar: Kurse fallen aus, Schulen werden zusammengelegt oder geschlossen, aus 2-zügigen Schulen werden einzügige, LehrerInnen werden entlassen, die Ausbildungsqualität sinkt. Wenn ein Fachseminar wie dieses 20 Jahre ‚durchhält’, ist das allein schon ein beachtlicher Erfolg. Krankenpflegeschulen dagegen werden vergleichsweise recht solide durch die Krankenkassen finanziert - d.h. über unsere Krankenkassenbeiträge.

(2) Stichwort Image der Altenpflege
Die Altenpflege leidet seit jeher unter einem vergleichsweise schlechten öffentlichen Image. Das hat vermutlich mehrere Gründe:

  • Alt sein ist kein besonders geachteter Zustand in einer Gesellschaft, in der nur die Leistungsfähigen zählen. Und wer sich um Alte kümmert, bekommt das zu spüren. Erzieher - ja, die bereiten Kinder auf das Leben vor. Krankenschwestern sorgen mit dafür, dass Kranken wieder gesund und leistungsfähig werden.
    Aber Alte? Wo sind denn Erfolge zu sehen, wenn jeder Pflegebedürftige doch irgendwann mit den Füßen zuerst aus dem Haus getragen wird?
  • Viele Jahre lang war der Beruf der Altenpflegerin oder des Altenpflegers ein Beruf für Umschüler. Die Fachseminare lebten lange Zeit in erster Linie von den Zahlungen der Arbeitsämter. Arbeitslose Schuhverkäuferinnen, Bergleute aus dem Ruhrgebiet, deren Zechen stillgelegt waren, ehemalige Prostituierte - für alle hatten die Arbeitsvermittler einen guten Rat: Werden Sie doch Altenpfleger/in - da werden immer Hände gebraucht!
  • Ungünstige Schicht- und Wochenenddienste, wenig Aufstiegschancen, zunehmende Arbeitsverdichtung und hohe Krankenstände - auch das verbindet sich mit dem Bild der Altenpflege.

(3) Stichwort Sackgasse
Wer Erzieherin oder Steuerberater wird, kann zusammen mit dem Berufsabschluss am Berufskolleg die Fachhochschulreife erwerben - und hat damit die Tür offen, um ohne zusätzliche Prüfungen später noch zu studieren. Wer einen Pflegeberuf erlernt, kann keine Fachhochschulreife parallel erlangen. Trotz vielfacher Versuche ist das in NRW bisher nicht gelungen - dank der unterschiedlichen Zuständigkeit von zwei Ministerien - und einerlei, ob die Minister rot, rotgrün oder schwarzgelb waren. Erst nach mindestens drei Berufsjahren und nach einer Einstufungsprüfung erhalten Pflegekräfte die Studienberechtigung. Das soll allerdings in Zukunft etwas leichter werden.

Also - ganz so golden ist die Situation nicht für die Fachseminare. Deutlicher gesagt: Sie ist kritisch. Altenpflege - ein Beruf mit Zukunft? Das Fragezeichen dahinter scheint doch sehr berechtigt zu sein!

Politisch und perspektivisch ist das eine verrückte Situation: Wir wissen, dass wir in den nächsten Jahren eine große Zahl gut ausgebildeter Pflegekräfte benötigen; noch nie hatten wir so genaue und klare Prognosen - und zugleich werden die Rahmenbedingungen von der Politik so gestaltet, dass immer weniger in den Pflegeberufen ausgebildet wird. In NRW sind in den letzten Jahren knapp 2.000 Ausbildungsplätze in der Altenpflege verloren gegangen; und in der Krankenpflege sank die Zahl der Auszubildenden bundesweit um 20%.

Und in der Praxis? Die Altenpflegerinnen und Altenpfleger selbst erleben eine immense Verdichtung ihrer Arbeit. Dafür gibt es im Wesentlichen drei Ursachen:

  • Wegen einer unzureichenden Finanzierung werden die Stellenschlüssel zunehmend ausgedünnt; Teilzeitbeschäftigung und befristete Arbeitsverhältnisse sowie Leiharbeit sind keine Ausnahmen, sondern Normalität.
  • Durch ständig neue Anforderungen an Planung, Dokumentation und Qualitätssicherung wird immer mehr Arbeitszeit weg vom Bewohner oder Kunden an den Schreibtisch verlagert; Untersuchungen zeigen, dass bis zu 45% der Arbeitszeit nicht mehr im direkten Klientenkontakt verbracht wird.
  • In die Heime kommen fast nur noch Menschen mit Demenz oder hoher Pflegebedürftigkeit; Phasen entspannteren Arbeitens werden immer seltener.

3. Perspektive: Altenpflege - ein Beruf mit Zukunft?
Werfen wir nun einen Blick in die Zukunft. Ich möchte 7 Aspekte ansprechen:

(1) Schulabgänger: In Westdeutschland wird die Zahl der Schulabgänger ihren Höhepunkt im Jahr 2013 erreichen - allerdings nur wegen der doppelten Abschlussjahrgänge in Folge der Verkürzung der Schulzeit; danach sinkt sie steil.
Im Jahr 2050 wird es 40% weniger 16- bis 20-Jährige geben als im Jahr 2005.
Der Wettbewerb um die guten, zuverlässigen und leistungsbereiten Jugendlichen wird hart werden.

(2) Demografische Entwicklung: Dem gegenüber verdoppelt sich bis 2050 der Anteil der Menschen, die über 65 Jahre alt sind. Und die Altersgruppe der 80-Jährigen und Älteren verdreifacht sich - von heute 3,7 Millionen Menschen auf gut 10 Millionen bis zum Jahr 2050.„Mit dieser sehr starken Zunahme der ab 80-Jährigen wird voraussichtlich auch die Zahl der Pflegebedürftigen zunehmen“, folgert das Statische Bundesamt sehr zurückhaltend.

(3) Altersverteilung der Mitarbeitenden: Die Folgen dieser demografischen Entwicklung werden dadurch verschärft, dass in den meisten diakonischen Einrichtungen in den kommenden 15 Jahren überproportional viele Mitarbeitende in den Ruhestand treten. Eine Umfrage des DW EKD ergab 2006/2007, dass in den sozialen und pflegerischen Berufen die Mitarbeitenden im Alter zwischen 40 und 49 Jahren mit 33 % die deutlich größte Gruppe stellen. Etwa ab dem Jahr 2015 wird es überall im Sozial- und Gesundheitswesen einen erhöhten Ersatzbedarf geben. Zugleich wird das Durchschnittsalter der Beschäftigten in den meisten Einrichtungen deutlich zunehmen, was i.d.R. mit einer Erhöhung der krankheitsbedingten Ausfallzeiten verbunden ist.
„Die Altersgruppe der über 50-jährigen wird das größte ‚Arbeitskräftereservoir’ für Krankenhäuser darstellen“, prognostiziert die Robert-Bosch-Stiftung. In der Altenpflege wird es nicht anders aussehen.

(4) Bedarf an Pflegenden: Nicht zuletzt die Fallpauschalen im Krankenhaus führen zu frühen Entlassungen im akutstationären Bereich; dadurch verlagert sich der Pflege- und Unterstützungsbedarf in den ambulanten und teilstationären Bereich sowie in den Bereich der Pflegeheime. Auch wenn die Zahlen variieren - alle Prognosen gehen davon aus, dass der Bedarf an zusätzlichen Pflegefachkräften (also ohne Ersatz der ‚Abgänge’) in allen Arbeitsfeldern zusammen schon bis zum Jahr 2020 bei 250.000 bis 380.000 liegen wird - Tendenz weiter steigend. Für das Jahr 2050 wird mit einem Bedarf von 2,2 Millionen Pflegekräften gerechnet - fast eine Vervierfachung der jetzigen Zahl. Die Politik hat darauf schon eine erste Antwort gefunden: Für die Ausbildung zur Altenpflegerin und zur Gesundheits- und Krankenpflegerin soll zukünftig nicht mehr die mittlere Reife (Fachoberschulreife), sondern der Abschluss der 10. Klasse - auch ohne Qualifikationsvermerk - ausreichen. Ministerin Schmidt will dieses noch vor der Bundestagswahl im Herbst durchsetzen.

In allen Bereichen der Pflege - stationär, ambulant, teilstationär und in allen Zwischenformen - werden allerdings zukünftig noch mehr Aufgaben von Assistenz- und Servicekräften übernommen werden. Das wird die Ansprüche an die Fachkräfte weiter erhöhen, denn jede Fachkraft wird für die Anleitung und Überwachung von Assistenzkräften direkt verantwortlich sein.

(5) Ambulant vor stationär: Zwar wird es weiterhin eine große Zahl von Altenheimen geben - insbesondere für Menschen mit dementiellen Erkrankungen. Aber die Zahl der Heimplätze wird im Vergleich zur Zahl der Hochaltrigen und Pflegebedürftigen nur sehr begrenzt wachsen. Pflege wird zum Großteil in der eigenen Häuslichkeit stattfinden, aber auch in Wohngruppen, Hausgemeinschaften und betreuten Wohnungen.
Dabei werden Pflegefachkräfte zunehmend nicht mehr selbst pflegen, sondern Laien - Nachbarn, Familienangehörige, Laienhelfer - zur Pflege anleiten. Sie werden Pflege planen, organisieren, sicherstellen und überwachen - denn eine professionelle Pflege für alle Pflegebedürftigen wird voraussichtlich nicht zu bezahlen sein.

(6) Hierarchisierung: Parallel zur Zunahme von Assistenz- und Hilfskräften werden die Anforderungen an die Fachkräfte steigen - und zwar mehrdimensional: Im Fachlichen als auch im Organisatorischen, und ebenso im Bezug auf Personalführung, auf Anleitung und auf Beratung von Betroffenen und Angehörigen. Vermutlich wird auch ein Teil bisher ärztlicher Tätigkeit - etwa das Verordnen von Pflege- und von Hilfsmitteln - in die Kompetenz von Pflegekräften fallen. Das Pflegeweiterentwicklungsgesetz von 2008 hat der heilkundlichen Tätigkeit von Pflegekräften schon ein wenig die Tür geöffnet. Unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt es die Übernahme eines Teiles von Maßnahmen, die bislang Ärzten vorbehalten waren, für entsprechend ausgebildete Pflegefachkräfte. Angesichts des wachsenden Ärztemangels werden die Kompetenzen von Pflegefachkräften zunehmen - so wie es in dielen anderen Ländern seit langem üblich ist. Mit der Errichtung von Pflegestützpunkten, ebenfalls geregelt durch das Pflegeweiterentwicklungsgesetz, wird ein neues bzw. erweitertes Berufsbild geschaffen, in dem neben pflegerischer Fachkompetenz auch eine ausgewiesene Beratungskompetenz erwartet wird.

Experten weisen seit längerem darauf hin, das eine hochwertige Pflege verstärkt eine wissenschaftliche Fundierung und eine ebensolche Qualifikation benötigt - Stichwort ‚evidenzbasierte Pflege’, also eine Pflege, die nicht in erster Linie auf Erfahrungen basiert, sondern auf wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Wirksamkeit bestimmter pflegerischer Maßnahmen. Pflegekräfte werden zunehmend an Hochschulen ausgebildet werden - so wie es in fast allen anderen Ländern seit Jahrzehnten üblich ist. Der Bedarf an Pflegekräften mit Hochschulabschluss wird auf etwa 7 - 10 % prognostiziert, gemessen an der Zahl der beschäftigten Pflegekräfte. Umso wichtiger wird die Durchlässigkeit zwischen Fachseminaren und Hochschulen.

(7) Generalisierung und Spezialisierung: Zwei scheinbar gegensätzliche Entwicklungen werden voraussichtlich die Pflegeausbildungen bestimmen:
Einerseits eine generalistische Pflegeausbildung, also ein Grundausbildung, die Pflege für alle Altersgruppen umfasst. Das ganzheitliche, am Individuum und seiner Geschichte ausgerichtete Pflegeverständnis, das die Altenpflege in den letzten Jahrzehnten entwickelt und das sie bestimmt hat, wird dabei eine wesentliche Rolle spielen. Zugleich wird der Bedarf an Spezialisierungen zunehmen:
Gerontopsychiatrische Pflege, Palliativpflege, onkologische Pflege, aber auch Leitungs- und Organisations-, also Managementkenntnisse sowie Anleitungs- und Beratungs-, also Mentoringkenntnisse; die Fähigkeit, Netzwerke von Haupt-, Neben- und Ehrenamtlichen aufzubauen und zu pflegen usw. An unserer Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld z.B. werden solche Studiengänge für Fachschulabsolventen angeboten: Management und Mentoring (Beraten und Anleiten).

Altenpflege - ein Beruf mit Zukunft? Ich denke, die Antwort fällt nicht schwer.
Hinter dem Satz steht ein Ausrufezeichen. Ein Beruf mit Zukunft. Ein Beruf, in dem sich noch vieles ändern wird. John F. Kennedy soll zum Stichwort ‚Veränderungen’ einmal gesagt haben: „Fortschritt ist ein hübsches Wort. Aber sein Motor ist Veränderung, und die hat viele Feinde.“ Die Anforderungen werden weiter steigen. Sie werden manche überfordern, andere werden gerade diese Vielseitigkeit herausfordern und begeistern.

Vielleicht heißt der Beruf eines Tages nicht mehr Altenpflege, sondern - wie sonst in Europaüblich - nur noch ‚Pflegefachkraft’ oder ‚Pflegekraft’. Aber wie auch immer:
Es ist ein Beruf mit vielen Facetten, mit vielen Entwicklungs- und vielen Spezialisierungsmöglichkeiten, mit Durchlässigkeit zur Hochschule. Und mit vergleichsweise sicheren und krisenbeständigen Arbeitsplätzen.

Eine der zentralen Fragen hinsichtlich der Attraktivität der Pflegeberufe insgesamt ist allerdings, ob die politischen und finanziellen Rahmenbedingungen sich weiter verschlechtern werden oder ob es gelingt, sie langfristig wieder zu verbessern.
Dazu bedarf es erheblicher Anstrengungen - und darin dürfte eine der zentralen Herausforderungen für die nächsten Jahre liegen. Nur wenn es gelingt, in der Öffentlichkeit und bei den politischen Entscheidungsträgen Verständnis dafür zu wecken, dass ein qualifiziertes Gesundheitswesen nicht zu Dumping-Preisen zu erhalten ist, können auf Dauer attraktive Arbeitsplätze in der Altenpflege zur Verfügung stehen. Dieses Problem gilt nicht nur für die Diakonie, sondern auch für die anderen Wohlfahrtsverbände. Es bieten sich daher gemeinsame Aktionen an, auch mit
den Gewerkschaften und den Berufsverbänden. Die große Demonstration “Der Deckel muss weg” im Herbst vergangenen Jahres in Berlin vor dem Brandenburger Tor hat zwar bisher keine nachhaltigen Reaktionen in der Politik hervorgerufen, zeigt aber, in welche Richtung Aktionsbündnisse gehen sollten.

Insofern gilt: Pflege muss sich auch politisieren, muss Lobby-Arbeit leisten, muss lernen, ihren eigenen Wert zu erkennen, selbstbewusst zu werden und zu kämpfen.
Das ist für die Pflegenden gut - das ist aber auch für die zu Pflegenden gut.
Das ist gut für die, die jetzt pflegebedürftig sind, und für uns, die wir vielleicht selbst im Alter pflegebedürftig werden. Wer jetzt etwas dafür tut, dass Altenpflege ein Beruf mit Zukunft ist, tut auch etwas für eine menschenwürdige Gesellschaft - für eine Gesellschaft, in der man keine Angst davor haben muss, alt zu werden.

In diesem Sinne wünsche ich dem Fachseminar für Altenpflege der westfälischen Frauenhilfe und allen, die dort lernen und lehren, eine gute, engagierte, bewegte und bewegende Zukunft!

Anschrift des Autors:
Prof. Dr. Martin Sauer
Fachhochschule der Diakonie
Grete-Reich-Weg 9
33617 Bielefeld

e-Mail: martin.sauer@fhdd.de
 

Landesverband der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen e.V. Feldmühlenweg 19 59494 Soest
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