Dokumentation

25 Jahre NADESCHDA und 11 Jahre THEODORA
Gemeinsame Jubiläumsfeier der Beratungsstellen | 26.08.2022

Predigt

Predigt von
Pfarrerin Birgit Reiche

Leitende Pfarrerin der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen e.V. und Leiterin der Beratungsstellen

Predigt

Liebe Festgemeinde,

in der letzten Woche hörte ich diesen Vers aus dem Jesaja-Buch im 54. Kapitel.
„Mache den Raum deines Zeltes weit, breite die Zeltplanen deiner Wohnung aus, spare nicht! Mach deine Zeltseile lang, ramme deine Zeltpflöcke fest!“

Spontan dachte ich, dass es sich lohnen könnte, darüber in diesem Jubiläumsgottesdienst zu predigen. Die Worte sprangen mich an und setzten sich in mir fest und erst bei der Predigtvorbereitung habe ich mir den Zusammenhang angesehen, in dem dieser Vers steht. Wir haben ihn eben in der Lesung gehört.

Der Teil des Jesaja-Buches, aus dem dieser Text stammt, ist im 6. vorchristlichen Jahrhundert entstanden. Er stammt von Deutorojesaja oder dem zweiten Jesaja, wie dieser Prophet oder die Prophetengruppe genannt wird, die diese Texte geschrieben haben. Der Text richtet sich an die Teile der israelitischen Bevölkerung, die ab 597 v.Chr. nach Babylonien verschleppt worden sind. Es waren vor allem Menschen der Oberschicht, die in Babylon allerdings nicht versklavt waren, aber in der Fremde den Kontakt zu ihrem Glauben zu verlieren drohten.

Dieses Volk wird nun durch den prophetischen Text von Gott angesprochen:
Jubele, du Unfruchtbare, die nicht geboren hat! Brich in Jubel aus und jauchze, die du nicht schwanger warst! Denn zahlreicher sind die Kinder der Verwüsteten als die der Ehefrau, spricht Gott.
Mache den Raum deines Zeltes weit, breite die Zeltplanen deiner Wohnung aus, spare nicht!
Mach deine Zeltseile lang, ramme deine Zeltpflöcke fest!

Der Text beginnt mit einer Aufforderung zum Jubel und zur Freude: Juble! Freue dich und jauchze! Es ist Freude in schwieriger Zeit.
So wie auch unsere Freude über die Jubiläen der Beratungsstellen eine Freude in schwieriger Zeit ist.

Damals ging es um Fragen der religiösen und ethnischen Identität in einem fremden Land:
Ist Gott noch da? Hat er Macht, oder sind wir anderen Mächten – den babylonischen Göttern und Herrschern – ausgeliefert? Kann Gott eingreifen? Und wenn ja – will er es überhaupt? Kümmert ihn unser Schicksal, oder ist ihm unser Ergehen gleichgültig? Gefühle der Verlassenheit und des Preisgegeben-Seins kommen hoch.

Diese Gefühle werden mit dem Bild der unfruchtbaren Frau ausgedrückt, die aber ihr Schicksal nicht bejammern soll, sondern zum Jubel aufgefordert wird. Durch Gott selbst wird ihr eine große Zukunft verheißen, eine reiche Nachkommenschaft, für die der Raum des Zeltes erweitert werden soll.

Predigt
Unsere Jubiläumsfeier bedeutet ebenfalls Freude in schwieriger Zeit: Haben wir nicht genug Probleme mit Corona, der Klima-Katastrophe, dem Ukraine-Krieg mit allen wirtschaftlichen Auswirkungen? Muss sich diese Gesellschaft nicht um wichtigeres kümmern? Es gibt bei uns so viele Beratungsstellen. Müssen es dann auch noch spezielle Angebote für Opfer von Menschenhandel und Prostituierte sein?
Kann unser Glauben helfen, diese oftmals schwierige Arbeit zu tun?

Die Unfruchtbare wird hier als gebrochene Existenz dargestellt, als „Verwüstete“ – oder Vereinsamte, Verwaiste, Einsame, Verlassene, wie andere Bibeln übersetzen.

Das ist die Lebenserfahrung auch vieler der Hunderte Frauen, die durch die beiden Beratungsstellen in den vergangenen 25 Jahren Unterstützung erhalten haben. Dabei machte es nur graduelle Unterschiede der persönlichen Leiden, ob die Frauen wirklich kinderlos waren, die Kinder in der Heimat zurückgelassen hatten oder ungewollt schwanger waren…

Wenn sie in die Beratung kamen und kommen, sind viele von ihnen gebrochene Existenzen: Betroffene des Menschenhandels zur sexuellen Ausbeutung, denen häufig nicht nur körperliche Gewalt angetan wurde, sondern die auch an der Seele schwere Verletzungen davongetragen haben. Aber auch Frauen, die keine individuelle Gewalt erlitten haben, sind häufig von ihren Lebenswegen schwer gezeichnet. Sie leiden unter der Trennung von ihren Kindern, die sie in der Heimat zurückgelassen haben. Sie leiden unter der Stigmatisierung, die sie erfahren, wenn ihre Tätigkeit oder ihr Beruf bekannt werden. Sie leiden unter auswegloser Armut, fehlenden Bildungschancen und Perspektivlosigkeit in ihrer Heimat.

Jubele, du Unfruchtbare, die nicht geboren hat! Brich in Jubel aus und jauchze, die du nicht schwanger warst! Denn zahlreicher sind die Kinder der Verwüsteten als die der Ehefrau, spricht Gott.

In biblischer Zeit war Kinderreichtum die einzige Lebensversicherung für Frauen. Gott verheißt hier Wohlergehen gegen allen Anschein und Freude und Jubel statt Trauer und Tränen an den Flüssen von Babylon.

Und auch das habt Ihr erlebt in Eurer langjährigen Tätigkeit, liebe Mitarbeiterinnen von NADESCHDA und THEODORA:
Klientinnen, die nach oder im Beratungsprozess eine glückliche Partnerschaft eingegangen sind, die ihre Kinder bekommen haben und Euch als Leih-Tanten und inzwischen auch als Leih-Omas ansehen. Frauen, an denen erfolgreichen Lebensgeschichten Ihr inzwischen manchmal auch Jahrzehnte lang Anteil nehmen konntet, weil sie sich von Zeit zu Zeit bei Euch melden.
Frauen, die überglücklich sind, weil der Nachzug der Kinder aus der Heimat gelungen ist und sie ihnen hier eine hoffentlich sichere Zukunft bieten können.

Die Freude, der Jubel, das Jauchzen der Frauen, die Erfolge in der Begleitung, der positive Abschluss von Beratungsprozessen – das alles sind für Euch Anreize, diese   schwierige Arbeit auch nach Jahren und Jahrzehnten weiter zu leisten.

Wir haben im übertragenen Sinne getan, wozu der prophetische Text die Exilierten in Babylon auffordert:
„Mache den Raum deines Zeltes weit, breite die Zeltplanen deiner Wohnung aus, spare nicht! Mach deine Zeltseile lang, ramme deine Zeltpflöcke fest!“

Predigt
Wir haben seit 25 Jahren unsere Zelte in OWL weit gemacht. Seit den Anfängen der Beratungsarbeit von NADESCHDA haben wir mehr Boden gefasst.
Zunächst bot das Kreiskirchenamt mit einem Büroraum eher kargen Unterschlupf. Das neue Beratungsangebot wurde argwöhnisch beäugt. Aus dem Fremdeln der Anfangsjahre wurde aber eine verlässliche Zusammenarbeit.
Die nächste Bleibe war großzügiger in der inzwischen abgerissenen alten Jugendstilvilla direkt gegenüber dem Kreiskirchenamt. Allerdings könnte jedes moderne Zelt mit der Dämmung dieses alten Kastens mithalten, nicht zuletzt die Heizkosten machten nach einigen Jahren einen Umzug nötig.
Daher waren wir dankbar, als uns der Kreis Herford die alte Hausmeisterwohnung an der Bielefelder Straße als neue Räumlichkeit für die Beratungsstelle NADESCHDA anbot. Großzügig geschnitten bot sie viel Platz für die Beratungsstelle mit ihren drei Mitarbeiterinnen und der ein oder anderen studentischen Praktikantin…

Inzwischen haben sieben Mitarbeiterinnen hier ihren Schreibtisch. Die NADESCHDAS sind zusammengerückt, um auch für THEODORA Platz zu schaffen und dank Einzug von Trennwänden, geteilten Büros und Nutzung als Multifunktionsraum aus Tagungsraum und Büro machen es möglich.

Das Bibelwort sagt zwar: Spare nicht! Wir haben uns aber verpflichtet, mit den Fördergeldern sehr wohl sparsam umzugehen und verzichten deshalb auf den Umzug in größere und vielleicht besser geschnittene Büro-Räume.

Womit wir die ganze Zeit nicht gespart haben, das ist die Vernetzung.
Wir haben – um in der Sprache des biblischen Textes zu bleiben – unsere Zeltseile lang gemacht. Die Gästeliste des heutigen Tages, Sie, die Sie hier im Gottesdienst sind und weitere, die erst zum Empfang kommen, zeigen, wie erfolgreich unsere langjährige Vernetzungsarbeit in die Beratungsinfrastruktur in Ostwestfalen-Lippe hinein, in Behörden und Politik, in die landes- und bundesweiten Fachverbände und –Gruppen wirkt.
Allein, ohne vertrauensvolle Zusammenarbeit aber auch manche konstruktive Auseinandersetzung, können wir unsere Arbeit zum Wohl der Klientinnen nicht leisten. Es braucht dieses starke Netzwerk, um gemeinsam an einer Verbesserung ihrer Lebensperspektive zu arbeiten.

Und wir haben unsere Zeltpflöcke fest eingerammt! Mit der in Aussicht gestellten kommunalen Förderung für THEODORA hoffe ich, dass das regelmäßige Bangen um den Fortbestand endlich ein Ende hat. Wir haben unsere politischen Forderungen zur Bekämpfung des Menschenhandels und zur Anerkennung von Sexarbeit vor jeder Wahl ins Gespräch gebracht, wir haben Politiker*innen unsere Arbeit vorgestellt, wir haben notwendige Spenden und kirchliche Kollekten eingeworben.
Dafür sind wir dankbar, darauf sind wir aber auch ein bisschen stolz!

25 Jahre und 11 Jahre sind eine lange Zeit, in der wir viel erlebt und viel erreicht haben.

Ich bin überzeugt, dass uns der lange Atem nicht erhalten geblieben wäre, ohne das fürbittende Gebet unserer Mitgliedsfrauen, ohne ihre finanzielle und tatkräftige Unterstützung, z.B. in der Prozessbegleitgruppe … und ohne den begleitenden Segen Gottes, der uns immer wieder Kraft gab, weiter zu machen.

„Mache den Raum deines Zeltes weit, breite die Zeltplanen deiner Wohnung aus, spare nicht! Mach deine Zeltseile lang, ramme deine Zeltpflöcke fest!“

Der Textabschnitt endet mit der Zusage Gottes, die weit über den heutigen Tag hinausweist und die uns Kraft und Zuversicht geben will, für alles, was wir im Raum unseres Zeltes noch erleben werden: 
Denn Berge mögen wohl weichen und Hügel wanken,
aber meine Treue wird nicht von dir weichen und mein Friedensbund nicht wanken, spricht Gott voll tiefer Liebe.
Amen.