Dokumentation

Verabschiedung von Angelika Weigt-Blätgen aus dem Amt der Leitenden Pfarrerin der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen e.V. | 01.05.2021

Angelika Weigt-Blätgen

Predigt von Pfarrerin
Angelika Weigt-Blätgen

Öffne deinen Mund für die Stummen und für das Recht aller Schwachen und für die Sache all derer, die verlassen sind.

Liebe Schwestern und Brüder,
liebe Frauenhilfegemeinde.

Öffne deinen Mund für die Stummen und für das Recht aller Schwachen und für die Sache all derer, die verlassen sind – ein Wort aus dem Buch der Sprüche, Monatsspruch für Mai – wie ausgewählt, nicht ausgelost, für die Verabschiedung einer ordinierten Theologin.
Öffne deinen Mund –  für die Stummen, Schwachen, Verlassenen – klar, das ist Aufgabe einer Predigerin im Auftrag ihrer Kirche, sich in Verkündigung, Seelsorge und Diakonie einzusetzen für die, deren Schreie stumm sind; für die, deren Stimme heiser geworden ist, schwach, verzagt. Sich seelsorglich zuzuwenden denen, die ängstlich und einsam sind, die den Boden unter den Füssen verloren haben, deren Seele eingeschnürt ist. Menschen motivieren und Rahmenbedingungen schaffen zu pflegen und zu betreuen die, die alt sind oder krank, die mit einer Behinderung leben müssen oder durch die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen behindert werden.

Öffne deinen Mund – misch dich politisch ein, setze dich ein für Recht und Gerechtigkeit, für Frieden und ein menschenwürdiges Leben.
Öffne deinen Mund besonders für die Rechte derer, die von den Menschen verlassen, im Stich gelassen wurden und sich fern fühlen von Gott – gottverlassen.
Öffne deinen Mund - sich einsetzen für…, sich seelsorglich zuwenden…, Diakonie organisieren für…
Doch was brauchen die Stummen, die Schwachen, die Verlassen eigentlich; worauf hoffen sie; wovon träumen sie?
Was, wenn mir nichts Hilfreiches mehr einfällt? Was, wenn meine Worte, unsere Stellungnahmen, Zwischenrufe, Predigten „leer zu uns zurückkommen“?
Wortgewandt, ja wortgewaltig sprechen, ist es wirklich das, was die Stummen, Verlassenen, Rechtlosen brauchen?
Hinhören, hinsehen, Zweifel zulassen und eigene Fragen – so kann Annäherung möglich werden, so können Grenzen zum Fließen gebracht werden zwischen Beredten und Stummen, Zweifelnden und Selbstgewissen, Gottverlassenen und Gottvergessenen. So kann die Chance ebenso wie die vermeintliche Gefahr entstehen, dass es Seiten und Rollenwechsel gibt. Keine weiß immer, was zu sagen ist; keiner kann immer sicher sein, das Richtige, das Rechte zu fordern; keine ist immer zu Hause in „god´s own country“.

Ach, wenn es gelingen kann, dann und wann, der Sehnsucht Sprache zu geben; Hoffnungsfäden auszulegen, Hoffnungsbilder zu malen – und dazu den Mund auftun: vorsichtig, einladend, verlockend. Die Sehnsucht, die Hoffnung zur Sprache bringen, dass Gerechtigkeit möglich ist, dass Tränen getrocknet werden; dass Hunger und Leid nicht mehr sein werden. Die Texte der Psalmen und Propheten, die Bilder Jesu für das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit legen uns genau solche Hoffnungsfäden aus. Hoffnung – nicht Illusion oder Vertröstung - Hoffnung verbindet, eröffnet Zukunft. „…dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung“ sagt Gott durch den Propheten Jeremia.
Die Prophet*innen des ersten Testaments geben der Sehnsucht nach einem gerechten Leben vor Gott und in der Gemeinschaft Nahrung. Sie sprechen von Recht und Gerechtigkeit, von einer Erneuerung der ganzen Schöpfung. Zugleich klagen Sie die an, die Unrecht tun, die die Rechte und die Würde anderer missachten und mit Gewalt ihre Interessen durchsetzen.
Wie die Prophet*innen stellt Jesus den Menschen, die hungert und dürstet nach Brot und nach Gerechtigkeit, nach Sicherheit und Schutz vor Ausbeutung und Gewalt Bilder vor ihre Augen, Ruhepunkte für ihre Seelen. Er legt die Sehnsucht nach dem Brot des Lebens in ihre Herzen; nach dem Brot des Lebens, das nicht nur den täglichen Hunger stillt. Und die Menschen, die sich versammelt hatten, Jesus zu hören und später erzählten, dass sie zu tausenden satt wurden, satt von wenigen Broten und einigen Fischen, wussten sehr genau wie sich Hunger anfühlt, der das ganze Leben bestimmt, entwürdigt.

Öffne deinen Mund für die Stummen und für das Recht aller Schwachen und für die Sache derer, die verlassen sind
Wie können Sehnsucht und Hoffnung in die Bewegung, in das Gebet, in einen Aufstand für das Leben gebracht werden? Wie können Sehnsucht nach Gott und Hoffnung auf ihre heilsame Nähe beschützt und gepflegt werden?
Vielleicht dies: Erzählungen vom Teilen – wie damals – vom Mehrwert einer Gemeinschaft, die trägt; ein Angebot, an wen wir uns wenden können mit Klage und Verzweiflung, Trauer und Wut.

Öffne deinen Mund – den Menschen ein Fenster zum Himmel öffnen, einen Spalt offen halten - ach, wenn das gelingen könnte, ohne Angst vor Kitsch und Frömmelei. Gewiss braucht jede, die das versucht, jeder, der das als Herausforderung annimmt, selbst Angebote, Impulse, die der eigenen Sehnsucht Sprache geben, die neu, immer wieder neu verbinden mit den Bildern und Erzählungen der Bibel; mit den über Jahrhunderte gesprochenen Worte des Glaubens, mit den Frauen und Männern, die uns mal festen und mal wackligen Grund gelegt haben für Leben und Glauben, für Hoffnung auf Schalom, auf heiles, unversehrtes Leben in ungefährdetem Frieden, der Ruhe für die Seele gibt. Schalom – Menschen aller Nationen, Farben, Geschlechter leben offen, liebevoll, ohne ängstlichen Zweifel und distanzierenden Verdacht miteinander.

Angelika Weigt-Blätgen
Öffne deinen Mund …
Angebote und Impulse, die uns etwas in den Mund legen, kommen oft ganz unerwartet in Liedern, Gedichten, Gemälden, Geschichten, in einem einzigen Wort, in einer Predigt – und plötzlich erschließen sich ganz neue Perspektiven.

„Gott ist eine Frau und sie wird älter“ – für viele von uns in der Frauenhilfe öffnete die Predigt einer Rabbinerin ein Verständnis für die Sehnsucht Gottes. Sie spricht von Gott als einer altgewordenen Frau, die Sehnsucht hat nach ihren Kindern. Lange haben sie Gott nicht mehr besucht, nur gelegentlich einen flüchtigen Gruß geschickt. Am Vorabend des Jom Kippur sitz sie allein an ihrem Küchentisch und schaut Bilder von ihren Kindern an. Wie schön sie sind, wie unterschiedlich. Sie ist stolz, denkt, wie besorgt sie oft war. Sie erinnert sich an all ihre Kinder, die sie verloren hat durch Krieg und Hunger, durch Krankheiten. Gott erinnert sich, wie sie am Bett ihrer Kinder gesessen hat, sie getröstet hat – und sie hat Sehnsucht. Und ihre Kinder – sie scheuen sich nach so langer Zeit, nach Hause zu kommen, sie gebrauchen Ausreden. Irgendwann kommen ihre Kinder, sie sind erstaunt, wie alt Gott geworden ist, wie faltig ihre Hände. Sie versuchen allerlei Entschuldigungen. Gott beruhigt sie mit dem Summen eines vertrauten Liedes. Und sie nehmen, als sie gehen, das Gefühl mit, dass es gut war, bei Gott gewesen zu sein, ihre Würde und Liebe und Treue wahrgenommen zu haben.

Gott hat Sehnsucht, Sehnsucht nach ihren Kindern, nach ihren Menschenkindern. Sehnsucht wird zu einer Bewegung, zu einer Bewegung aufeinander zu; nicht einseitig verzehrend oder resigniert. Nicht ziellos.
Der Sehnsucht Sprache geben – auch der Sehnsucht Gottes nach uns. Tiefer Grund für eine Ich-Du-Beziehung zwischen Gott und Mensch wie Dorothee Sölle sie im Anschluss an den jüdischen Philosophen Martin Buber entfaltet.

Wir brauchen Gott nur, wenn wir auch wissen, dass Gott uns braucht, uns braucht, damit wir, den Mund für die Stummen öffnen und für das Recht aller Schwachen und für die Sache derer, die verlassen sind.
Verkündigung, Seelsorge, Diakonie sind dann anders gegründet; darin dass Gott und Mensch aufeinander angewiesen sind. Gott liegt auf der Straße, sagt Martin Buber. Gott ertrinkt im Mittelmeer, verzweifelt in der Pandemie, hat Sehnsucht nach ihren Kindern. Die seelsorgliche Zuwendung, die politische Einmischung, der Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit sind dann Beziehungsarbeit, Liebesdienst, Gottesdienst.
Da berühren sich Himmel und Erde…
Amen.