Festvortrag von Jutta Geißler-Hehlke,  Dortmunder Mitternachtsmission e.V.

Liebe Kolleginnen von Theodora,
sehr geehrte Damen und Herren,

die Dortmunder Mitternachtsmission
arbeitet schon seit 1918 vor Ort
und unterhält eine Beratungsstelle für Prostituierte
und Opfer von Menschenhandel.

Zwei unserer Arbeitsschwerpunkte
liegen in den Arbeitsbereichen
„Kinder und Jugendliche in der Prostitution“
und in der „Ausstiegsberatung“.

Kurz gesagt, wir wissen, was Theodora bevorsteht
und wir wissen, dass es nicht einfach sein wird.

Ich freue mich über die Ehre,
heute den Festvortrag halten zu dürfen
und bedanke mich für die Einladung.

Die Einrichtung und Führung
einer Prostituierten- und Ausstiegsberatung
für Mädchen und junge Frauen
ist eine gewaltige und notwendige Aufgabe.

Die Gründe, aus denen junge Mädchen und Frauen den Weg in die Prostitution wählen,
sind individuell verschieden
.

Die Chancen- und Perspektivlosigkeit bei der Arbeitssuche, aber auch die schlechte Bezahlung
in typischen Mädchen- und Frauenberufen
können als Gründe angesehen werden.

Mangelnde Lebenserfahrung, fehlende Vorbilder, Gutgläubigkeit und Lenkbarkeit durch Männer,
die Hoffnung auf ein besseres Leben -

die Konsumgesellschaft
hat ihre Versprechungen nicht erfüllt -
und die Doppelmoral im sozialen Umfeld
erleichtern den Schritt zum Bruch des Tabus Prostitution.

Oft jedoch stehen emotionale Defizite im Vordergrund:
z.B. Überbehütung, negative Erfahrungen mit Sexualität, Streitigkeiten in Familie und Umfeld,
mangelnde Liebe und fehlende Anerkennung
veranlassen diese jungen Menschen,
sich einer Gruppe (Gang/Clique)
oder einer Person (z.B. Zuhälter) anzuschließen,
zu deren Lebensunterhalt sie
durch den Prostitutionslohn beitragen.

Durch diesen Beitrag erhoffen sie sich
eine enge Bindung, Liebe und Wertschätzung
von Seiten der o.g. Personen.
Häufig werden sie in die Prostitution hineingeredet.

Manche Mädchen empfinden ihre Situation zunächst durchaus positiv,
da sie verhältnismäßig viel Geld zur Verfügung haben,
sich auf Grund ihrer Erfahrungen erwachsen fühlen
und sie zu einer Gruppe oder einer Person gehören,
zu der sie emotionale Bindungen aufgebaut haben.

Viele Mädchen sind zu diesem Zeitpunkt
noch nicht in der Lage,
die körperlichen und seelischen Folgen abzuschätzen.

Auch kommt es vor, dass Minderjährige mit psychischer und physischer Gewalt zur Aufnahme der Prostitution gezwungen werden
und sich dieser nicht widersetzen oder entziehen,
weil sie keine Person ihres Vertrauens haben,
auf deren Hilfe sie hoffen können.

Von diesen Mädchen hören wir häufig,
dass sie bereits in früher Kindheit von Familienangehörigen
oder Personen aus dem engsten Familienumkreis,
teilweise über mehrere Jahre,
misshandelt und missbraucht wurden.

Die Mädchen, die zur Prostitution gezwungen werden sind besonders den gewalttätigen Übergriffen durch Männer im Bereich der Prostitution ausgeliefert.
Das trifft insbesondere auf Ausreisserinnen
aus Heimen und Familien zu.

Sie scheuen den Kontakt
zu MitarbeiterInnen von Institutionen,
da sie befürchten, wieder zurückgebracht zu werden.
Sie sehen sich gezwungen, unterzutauchen,
müssen aber gleichzeitig ihren Lebensunterhalt sichern.

So geraten sie leicht an Personen,
die ihre Hilflosigkeit ausnutzen,
indem sie ihnen z.B.
einen Schlafplatz zur Verfügung stellen
und anschließend die Prostitution
als Gegenleistung verlangen.

An dieser Stelle müssen auch
die Mädchen und jungen Frauen erwähnt werden,
die aus scheinbar intakten Familien stammen,
die keine leicht erkennbaren Probleme haben.

Sie finanzieren durch den Prostitutionslohn Dinge,
die sie benötigen,
um in ihrer Gleichaltrigengruppe anerkannt zu werden
und die sie durch Taschengeld bzw. Schülerjobs
nicht ermöglichen können.

Kontakt zu diesen Mädchen und Frauen
bekommen wir durch Streetwork
und durch volljährige Prostituierte,
auch über die Polizei und Jugendschutzstellen.

Wir werden auch von Eltern, Pflegeeltern, ErzieherInnen, LehrerInnen und PfarrerInnen,
die vermuten oder wissen,
dass Kinder und Jugendliche der Prostitution nachgehen, um Hilfe und Unterstützunggebeten.

Außerdem kommen durch Erziehungsberatungsstellen, Einrichtungen der Jugendhilfe,
Ärzte und Krankenhäuser,
Kinder und Jugendliche in unsere Beratung.

Die Problemlagen
der betroffenen Mädchen und jungen Frauen
unterscheiden sich z.T. erheblich
von denen der älteren, erwachsenen Frauen.
Auch gehen sie an anderen Orten der Prostitution nach.
Das macht es notwendig, einen Arbeitsbereich
speziell für dieses Klientel einzurichten.

Die Hoffnung, in kurzer Zeit viel Geld zu verdienen, führt für manche dieser Mädchen und jungen Frauen dazu, sich fest im Prostitutionsmilieu zu etablieren.

Sie vernachlässigen den Schulbesuch,
sehen nicht mehr die Notwendigkeit
einer Berufsausbildung bzw. eines Schulabschlusses,

gehen Beziehungen zu Männern ein,
die ebenfalls in diesem Milieu verwurzelt sind
und brechen Kontakte zu ihren Familien
und Bekannten außerhalb des Milieus ab.

Diese Kinder und Jugendlichen brauchen ein niedrig schwelliges Angebot,

das auf gänzlich freiwilliger Basis
in Anspruch genommen werden kann
und das sofort und unbürokratisch Hilfe gewährleistet
z.B. schnelle sichere Unterbringung,
wenn Mädchen von Zuhältern bedroht werden.

Nur so können erfahrungsgemäß Vertrauen aufgebaut
und zusammen mit den Betroffenen
weitere Schritte geplant und durchgeführt werden,
ohne dass sich die Klientinnen
aus Angst vor Reglementierung wieder zurückziehen.

Scham und Angst,
auf Grund ihrer Tätigkeit abgelehnt
und diskriminiert zu werden,
hindern viele der Betroffenen zunächst,
Beratungsstellen und Hilfeeinrichtungen
direkt aufzusuchen.

Nachdem die jungen Frauen und Mädchen
Vertrauen zu den Streetworkerinnen aufgebaut
und sie als verlässliche Ansprechpartnerinnen
erfahren und  akzeptiert haben,
können weitergehende, umfangreiche Maßnahmen zusammen mit den Klientinnen
geplant und durchgeführt werden, z.B.

  • intensive Einzelgespräche in der Beratungsstelle,
  • oder an anderen Orten
  • Existenzsicherung
  • Gesundheitsvorsorge
  • z.B. AIDS- und STD-Prävention
  • Beratung zur  Schwangerschaftsverhütung
  • Begleitung während eines Krankheitsverlaufes
  • Hilfen bei der Wohnungssuche und Umzügen
  • Verhandlungen mit Vermietern
  • potenziellen Arbeitgebern usw.
  • Vermittlung zu Therapieeinrichtungen
  • und stationären Einrichtungen der Jugendhilfe
  • die Einübung sozialer Kompetenzen
  • Aufarbeitung von Erinnerungen und Schuldgefühlen
  • Abbau von Ekel und Selbstverachtung
  • Hilfen beim Aufbau des Selbstwertgefühls
  • Hilfe bei der Kontaktaufnahme zu Angehörigen und  
  • beim Aufbau neuer Kontakte außerhalb des Milieus
  • Beratung von Angehörigen
  • Erarbeitung von Zukunftsperspektiven (z.B. Nachholen eines Schulabschlusses oder Beginn einer Ausbildung)

Sie sehen, das ist eine vielschichtige
und weitgehende Aufgabe.
Neben der aufsuchenden Arbeit ist die Zusammenarbeit mit Vernetzungspartnern besonders wichtig.

Es gilt, den Jugendlichen
den Weg zurück in die Jugendhilfe zu ebnen.

Sie sollen und dürfen nicht für lange Zeit
an eine Beratungsstelle für Prostituierte gebunden werden

sondern sollen sobald wie nötig und möglich
den Weg in eine Zukunft
voller neuer Chancen und Hoffnung gehen.

Da mir die Kolleginnen,
die nun bei Theodora arbeiten,
besonders am Herzen liegen,
möchte ich meine Gedanken an sie wenden:

Liebe Kolleginnen,
wie Ihr wisst ist die Prostitution
von Minderjährigen nicht verboten,

aber die Prostitutionskunden,
die Kinder und Jugendliche aufsuchen,
machen sich strafbar.
Deshalb findet der Kontakt zu Freiern
überwiegend nicht dort statt,
wo volljährige Prostituierte ihre Geschäfte anbahnen.

Sie, liebe Kolleginnen,
werden die Orte rausfinden müssen,
an denen in Herford und Umgebung,
Jugendliche für die Prostitution
angeworben oder ihr zugeführt werden.

Das können bestimmte Kneipen,
Discotheken und Events sein.

Gegenden in der Nähe von Schulen,
Jugendhilfe- und Sporteinrichtungen
und auch im Umfeld von Rock- und Popveranstaltungen.

Filme,
die das Rotlichtmilieu schillernd und abenteuerlich zeigen,
können zu falschen Vorstellungen führen,
aber auch der Druck einer Gruppe,
die die Erfüllung von Lebensträumen in Markenklamotten
und der neuesten Unterhaltungselektronik sieht,
kann Ängste und Vorbehalte über den Haufen werfen.

Selbst der Wunsch nach dem chicsten Handy
ist uns als Einstiegsgrund bekannt.

Eine Gefahr kann von einem brutalen Rockertypen,
einem charmanten Kokser oder dem Disc Jockey ausgehen,
aber leider auch vom eigenen Vater,
dem Onkel, dem Cousin oder einer dummen Freundin.

Der „angesagte Typ“,
der einem jungen Mädchen alles verspricht,
ihr das Gefühl gibt, etwas Besonderes zu sein,
der sich für ihre Gefühle unentbehrlich macht
und sie letztendlich in die Prostitution „quatscht“.

Den gibt es, - und liebe Kolleginnen,
Ihr werdet ihn kennen und hassen lernen.

Ihr werdet die Familien treffen,
die ohne Skrupel ihre Mädchen auf den Strich schicken,
damit das Familieneinkommen sich erhöht
und der Lebensstandard steigt.

Und Ihr werdet vieles nicht verstehen.

Die Teenagermutter, werdet Ihr kennen lernen,
deren Traum von einer glücklichen Familie
mit Vater-Mutter-Kind, zerplatzt ist,
und die versucht,
ihre schmalen Hartz IV-Bezüge aufzubessern,
um für sich und ihr Kind
etwas mehr Lebensqualität zu schaffen.

Träume von Ausbildung, erfülltem Berufsleben,
gesichertem und ausreichendem Einkommen
hat sie längst aufgegeben.
Sie wird Euch leid tun
und hoffentlich werdet Ihr nicht denken,
dass Ihr die besseren Menschen seid.

Ja, Ihr werdet zu ungewöhnlichen Zeiten
an ungewöhnliche Orte gehen
und dort bei jungen Menschen,
die in ihrer eigenen Welt leben
und sich von der Realität abgeschottet haben,
Vertrauen aufbauen müssen.

Ihr dürft Euch beim Streetwork nicht abhalten lassen
von Kälte, Schnee und Regen,
von Anpöbeleien, Drohungen, Verachtung
oder dem Abweisen Eurer Hilfeangebote.

Ihr dürft nicht den Kopf einziehen

wenn die Prostitutionskunden
Euch mit obszönen Angeboten beleidigen
oder Anwohner Euch für Prostituierte halten
und Euch beschimpfen.

Auch aus den christlichen Kreisen werdet Ihr
nicht immer Lob und Unterstützung bekommen.
Prostitution ist noch immer ein Tabu.

Viele gute Christenmenschen sind der Ansicht,
dass Mädchen und Frauen, die der Prostitution nachgehen,
eine Schuld auf sich geladen haben
und keine Hilfe verdienen.

Sie sagen, die seien „verdorben“

und das bedeutet, man kann ihnen nicht helfen.
Verdorbenes ist verloren.

Von Euch - ansonsten geschätzte Freunde -,
Verwandte und Mitbürger werden Euch raten,
Euch um „unverschuldet in Not Geratene“ zu kümmern
und nicht „um diesem Dreck“.

Sie werden versuchen,
Euer Bemühen um diese Mädchen und jungen Frauen
als übertrieben, ineffizient und unnötig darzustellen

und sie werden sich weigern,
Eure Arbeit und die Ziele von Theodora
ideell und finanziell zu unterstützen.

Und nicht zuletzt seid Ihr selber in Gefahr.
Der Standort bestimmt den Standpunkt
und Ihr müsst „auf dem Boden bleiben“
und den Sinn für Realität und Werte bewahren.

Wenn es soweit kommt, dass Ihr zweifelt,
was richtig ist und gut
und was Recht ist und was Unrecht,
und wenn Ihr Euch ekelt vor Doppelmoral, Heuchelei
und vor der Menschenverachtung

dann denkt daran:
Ihr habt einen Auftrag, eine Mission angenommen,
einen Auftrag von Jesus Christus

und diesen Auftrag wollt Ihr
und den werdet Ihr erfüllen
und Ihr dürft Euch nicht beirren lassen.

Und Ihr werdet rausgehen

und die finden, die Eure Hilfe brauchen.

Ihr werdet zuhören

und die Träume und die Sehnsüchte verstehen.

Ihr werdet helfen, neue Lebensperspektiven
außerhalb der Prostitution zu finden
und Ihr werdet ermutigen, bestätigen,
begleiten und betreuen,

auch wenn es Rückschläge gibt
und alles nicht beim ersten Versuch,
oder auch beim zweiten oder dritten Anlauf klappt.

Ihr werdet beständig sein müssen und zuverlässig,
Ihr werdet keine Versprechungen machen,
die Ihr nicht halten könnt.

Ihr werdet Eure Klientinnen nicht klein machen,
aber Ihr werdet Euch auch nicht ducken müssen.
Ihr zeigt Respekt und Ihr könnt Respekt verlangen.

Vor allen Dingen braucht Ihr Beharrlichkeit.

Und Ihr braucht Bündnispartnerinnen und -partner.

Sucht die in Eurer Kirche,
aber auch in Euren Kommunen,
bei der Polizei und anderen Behörden und Ämtern,
bei Arbeitsvermittlung und Industrie
und in Weiterbildungsinstituten.

Sucht die Kooperation,
mit Lehrern, Erziehern und Jugendfreizeitstätten,
vernetzt Euch mit anderen Beratungsstellen

Baut keine Feindbilder auf,
letztendlich werdet Ihr merken,
dass Jugendämter, Polizei und Erziehungshilfe
die gleichen Ziele haben wie Ihr
auch wenn sie andere Aufgaben haben als Theodora.

Sucht den Kontakt

zu Betreibern von Discotheken und Szenekneipen,
geht in Bordelle, Clubs und Bars
und baut Vertrauen auf.
Auch hier werdet Ihr Menschen finden,
die Euch unterstützen und Eure Arbeit wertschätzen.

Und wenn Ihr denkt, alles sei zu schwierig,
oder der Erfolg kommt nicht schnell genug,

auch wenn Ihr fürchtet, dass Ihr allein dasteht
und keiner zu Euch hält.

Gebt nicht auf.

Dann kommt zu uns, Euren Schwestern in der Arbeit.
Wir teilen gerne unsere Erfahrungen mit Euch,
erzählen Euch von unseren Fehlversuchen,
geben unsere Ängste und Zweifel zu
wir lassen Euch mitlachen über unsere Niederlagen,
und muntern Euch auf.

Wir freuen uns mit Euch über Eure Erfolge und wissen,
wie hart sie erkämpft sind.

Und nun noch einen Appell
an die Befürworter, Unterstützerinnen und Förderer
von Theodora:
Sie können nach den voran gegangen Worten
unschwer erahnen, wie schwierig,
aufreibend und aufwendig diese Arbeit ist.

Dass Erfolge hart erkämpft werden müssen
und nicht schnell messbar sind.

Ihnen ist allen klar, dass Theodora
eine schwere und wertvolle Arbeit leisten muss,
eine Arbeit, die für die Gesellschaft
von großer Bedeutung ist.

Wir alle, die Kirchen, unsere Gesellschaft, die Politik,
die Gruppen und einzelnen Menschen
können es uns nicht leisten,
auf einen Teil unserer Jugendlichen zu verzichten,
der mit Hilfe und Unterstützung
aus einer verfahrenen Situation
in ein geregeltes, erfülltes
und selbständiges Leben finden könnte.

Das sollte uns Anstrengung, Kraft, Zuwendung
und   ..... ja, auch Geld wert sein.

Die Arbeit wird nicht nach dem Ablauf der Förderung
durch die Aktion Mensch vollendet sein.

Sie wird weitergehen müssen.
und weitere Unterstützung brauchen.

Ich bitte Sie herzlich,
werden Sie alle Förderer und Unterstützerinnen,
Freundinnen und Helfer von Theodora.

Seien Sie Multiplikatorinnen und Fürsprecher
die für Theodora sensibilisieren und informieren,

fordern Sie Regierungen und politische Parteien
in Kommune, Land und Bund auf,
sich einzusetzen für die Arbeit

und werden Sie nicht müde, in Ihren Gemeinden
um Verständnis und Unterstützung zu bitten.

Und nicht zuletzt, seien Sie bitte solidarisch
mit den Mitarbeiterinnen von Theodora,
sorgen Sie sich auch um
deren seelisches und körperliches Wohl
und schließen Sie sie in Ihre Gebete ein.