Eröffnung der Beratungsstelle Theodora
Einführung der Mitarbeiterinnen 08.04.2011

Predigt zur Geschichte der Tamar (1. Mose 38)
Pfarrerin Angelika Weigt-Blätgen
leitende Pfarrerin der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen e.V.

Liebe Gemeinde, Schwestern und Brüder,

es ist eine archaische Geschichte, die wir ausgesucht haben aus dem 1. Buch Mose; eine Geschichte - geprägt von patriarchaler, paternalistischer Familienvorstellung, eine Geschichte von der Macht eines Vaters über seine Söhne; von der Macht der Männer über die Frauen. Zugleich ist sie eine Widerstands- und Hoffnungsgeschichte. Eine Frau unterwandert die Macht. Sie setzt List gegen Macht und verschafft sich so ihr Recht.

Tamar ist einer Kanaaniterin aus der Frühzeit Israels. Juda, einer der zwölf Söhne Jakobs, hat sie ausgesucht, seinen ältesten Sohn zu heiraten. Juda hat drei Söhne und braucht sich um seine Nachkommen keine Sorgen zu machen. Name und Besitz werden weitergegeben werden und Gottes Versprechen, ein großes Volk aus ihm zu machen, wird sich erfüllen.

Doch es kommt anders. Der erste Sohn stirbt kinderlos. Juda schickt seinen zweiten Sohn zu Tamar, um dem verstorbenen Bruder Nachkommen zu schaffen. Das entspricht dem Brauch der sogenannten Schwager- oder Leviratsehe, der Pflicht eines Bruders seine Schwägerin zu heiraten, um seinem toten Bruder zu seinem Recht auf Nachkommen zu verhelfen. Onan heiratet zwar die Schwägerin, verhindert aber, dass er ein Kind zeugt. Onan stirbt. Und nun bleibt noch der dritte Sohn. Doch Juda hat Angst um sein Kind, befürchtet einen Fluch, der auf der von ihm ausgewählten Schwiegertochter liegt und schickt Tamar in ihr Elternhaus zurück - verwitwet und kinderlos und rechtlos und arm - das war so ziemlich das Schlimmste, was einer Frau passieren konnte.

Tamar findet sich nicht ab. Tamar handelt. Als sie hört, dass ihr Schwiegervater in die Stadt kommt, verkleidet sie sich als Prostituierte. Sie setzt sich ans Stadttor. Der Plan geht auf. Der Schwiegervater nimmt ihre Dienstleistung in Anspruch. Da er den ausgehandelten Lohn - ein Ziegenböckchen – nicht bei sich hat, verlangt sie seinen Stab und seinen Siegelring als Pfand. Sie wird schwanger. Sie wird der Hurerei verdächtigt und soll verbrannt werden. Ohne Anhörung wird sie an den Hinrichtungsort geführt. Ihre intelligente Vorsichtsmaßnahme bringt die Wahrheit an den Tag.
Der Patriarch muss eingestehen: „Sie ist im Recht gegen mich“.

Die Geschichte ist mehr als orientalische Folklore aus der Geschichte Israels, aus dreitausendundeiner Nacht. Sie ist zwar oftmals als Motiv für Gemälde verwandt worden: eine aufreizend gekleidete, wenn gleich verschleierte Frau, prachtvolle Männer, Gewänder und hoch bepackte Kamele, liefern darauf das nötige Zubehör. Doch die Geschichte erzählt auch einen Subtext, trägt auch andere Botschaften in sich.

  • Prostitution gehört mitten in die Gesellschaft. Sie hat ihren Ort dort, wo Menschen, fremde und einheimische und handeltreibende, sich bewegen. Die Einheimischen wissen, wo und von wem sexuelle Dienstleistungen angeboten werden.
  • Der Patriarch - Herr über Menschen, Land und Tiere - kauft diese Dienstleistung gegen öffentlich ausgehandelten Lohn.
  • Es gibt keinen Hinweis auf moralische oder religiöse Verurteilung der Prostitution oder der Prostituierten.
  • Das Unrecht, die Ungerechtigkeit, geschieht nicht in dem Verhältnis Prostituierte - Freier, sondern das Unrecht liegt in der rechtlichen, religiösen und sozialen Machtverteilung, die es zulässt, dass einer Frau Teilhabe zugebilligt, vorenthalten und entzogen werden kann und sie keinen Rechtsanspruch auf Selbstbestimmung, eigenständige soziale Absicherung, eigenen Wert und eigene Würde hat.
  • Die Grenze zwischen freiwilliger - und Zwangsprostitution ist fließend. Haben die Verhältnisse Tamar gezwungen, oder war die Prostitution das Mittel frei und selbstbestimmt ihren Anteil am gesellschaftlich für Frauen damals Möglichen zu erlangen?
  • Die Geschichte beurteilt Tamar als gerecht und stellt sie als Vorbild heraus. Ihr Handeln wird anerkannt.
  • Die Prostitution wird als Mittel eingesetzt, um ein Ziel zu erreichen, das der Frau selbst zugute kommt.
  • Und dann ist da noch der für uns so mutmachende, handlungs- und hoffnungsweisende Subtext: Gott ist nicht auf der Seite derer, die Macht und Verfügungsgewalt haben. Gott segnet die Frau, die sich mit List und Klugheit und Beharrlichkeit, die sich mit hohem Einsatz, ihr Recht schafft. Gott segnet die Frau mit gleich zwei Söhnen, mit Zwillingen.

Gott segnet. Es segnet der Gott, der die Stärke der Schwachen, die List der Verlierer, die Macht der Ohnmächtigen unwiderruflich zu seiner Sache erklärt hat.

Gott verbindet seine Geschichte mit den Menschen, mit Tamar und vielen anderen, die scheinbar ohne Recht und Einfluss und Gestaltungsmöglichkeit sind. Gott verbindet seine Geschichte mit den Menschen bis zum Kreuz Jesu immer und immer wieder mit denen, die der Gerechtigkeit, der von Gott gewollten Gerechtigkeit, ein Gesicht und eine Geschichte geben. Im Stammbaum Jesu, im Matthäus-Evangelium, werden neben Maria vier Frauen erwähnt - eine von ihnen ist Tamar, deren Söhne Teil der Generationenfolge von Abraham bis Jesus sind.

Von den drei anderen Frauen ließen sich ganz vergleichbare Geschichten wie die der Tamar erzählen. Gott will Gerechtigkeit und ein Leben in Fülle für alle Menschen, ein Leben in Würde und Selbstbestimmung - ein Leben aufrecht und frei und gesegnet. Die Wege, diese Gerechtigkeit durchzusetzen, sind verschlungen; sie entziehen sich dem schnellen moralischen Urteil; sie passen in kein gesellschaftliches Klischee; sie entsprechen nicht den schon immer für Frauen vorgesehenen Wegen.

Die Beratungsstelle, deren Mitarbeiterinnen und deren Arbeit wir heute unter den Segen Gottes stellen wollen, trägt den Namen einer byzantinischen Kaiserin. Das können Sie nachlesen: Auch sie steht für mehr als Folklore aus tausendfünfhundertundeiner Nacht.

Theodora heißt aber auch Gottesgeschenk: Heißt die von Gott Geschenkte. Und wenn Frauen in das Frauenzeichen wie in einen Spiegel sehen - so ist es unser Ziel - sollen sie ein Stück Himmel sehen. Sie sollen sehen: Ich bin ein Gottesgeschenk und eine von Gott Beschenkte. Ich bin Gott und den Menschen wichtig; so wichtig, dass sie nach meiner Geschichte, meinen Entscheidungen, meinen Möglichkeiten und Begabungen fragen; so wichtig, dass sie meine Blickrichtung einnehmen. Ich bin ein Gottesgeschenkt und eine Beschenkte, die wie Tamar das Recht hat um ihrer selbst willen und um ihrer Interessen willen zu handeln und sich damit ins Recht zu sehen; sie sollen sehen: ich bin ermächtigt und berechtigt Entscheidungen zu treffen; wenn auch unter großem Einsatz, meinen Weg zu suchen und zu finden. Auch Tamar fiel ihr Recht nicht vom Himmel.

Gemeinsam himmelwärts zu blicken ist die Herausforderung für Beraterinnen, Begleiterinnen, Unterstützerinnen und Klientinnen; nicht vorschnell in Kategorien zu denken und zu handeln, schon gar nicht in moralischen - immer die Unterzeile, den Subtext, die Geschichte hinter den Geschichten wahrnehmen und lesen - ist die Aufgabe.

Die Geschichte der Tamar: Gottes Geschichte mit den Menschen hält unterwartete Geschenke, errungenen und erkämpften Segen bereit; Gott segnet die Stärke derer, die wir für schwach halten; Gottes Gerechtigkeit kann ins Werk gesetzt werden durch die List der Verlierer; Gottes Sache ist die Macht der Ohnmächtigen. So möge unsere, ihre Zuwendung zu den Menschen, wie die Zuwendung Gottes zu den Menschen als Befreiungs- und Heilungsbotschaft erlebt werden, möge ihre, möge unsere Arbeit zu einem Gottesgeschenk werden - in der Tradition Tamars und Theodoras.

Amen

 

Literatur:
Die Geschichte der Tamar ist erzählt nach: Dorothee Sölle, Gottes starke Töchter, 2003.
Zum Thema Prostitution sind Impulse aufgenommen worden aus:
Helga Kuhlmann, Gott braucht keine Opfer, in: Dem Tod nicht glauben, Festschrift für Luise Schottroff, Gütersloh 2004