Predigt von Angelika Weigt-Blätgen am 1. Advent 2011

Verabschiedung von Christel Schmidt
und Einführung des neu gewählten Vorstandes
und der Vorsitzenden Inge Schnittker

Offenbarung 5,1-5 und 6-14

Die Liebe Gottes, die Gnade Jesu Christi und die Gemeinschaft heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen

Liebe adventliche Festgemeinde,

was tun Sie, wenn Ihnen etwas oder jemand ein Buch mit sieben Siegeln ist? Dieses Bild der Offenbarung ist längst in unseren Alltagssprachgebrauch eingegangen. Aber was genau tun Sie?

Wenn es um ein Heimwerkerprojekt geht und die mitgelieferten Einzelteile Ihnen ein Buch mit sieben Siegeln sind, empfiehlt sich ein Blick in die Montageanleitung, die sich aber - je nach Ursprungssprache - ebenfalls als ein Buch mit sieben Siegeln herausstellt. Warum Ihr Computer dieses oder jenes macht, die Nachbarin, der Partner sich so oder so verhalten - Bücher mit sieben Siegeln, ja oftmals sind wir uns selbst ein Buch mit sieben Siegeln.

Und nun - vom ersten Advent an - versuchen wir uns dem größten Geheimnis unseres Glaubens zu nähern - der Geburt Jesu, dem Kommen Gottes in die Welt. Jedes Jahr ein Anfang, jedes Jahr die Chance Neues zu entdecken, uns weitere Bilder und Facetten Gottes in der Welt zu erschließen, uns aufschließen zu lassen, uns erleuchten zu lassen. Die Predigtordnung bietet uns für diesen ersten Schritt am ersten Advent einen Text aus der Offenbarung an, der auf den ersten Blick wirkt wie die eingangs erwähnte Montageanleitung, gespeist aus welcher Ursprungssprache auch immer.

„Der volle Klang einer anderen Welt…. ; „ Vision einer gerechten Welt“ - Menschen, die sich der Entschlüsselung des Textes gestellt haben, fanden diese beiden Überschriften.

Vision einer gerechten Welt - Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid und Geschrei und Schmerz.

Diesen Schlüssel nimmt zur Hand, wer sich dem Buch der Offenbarung von den Rändern her nähert.
Es ist selbst eine Randerscheinung. Es ist das letzte Buch der Bibel, das letzte unseres neuen Testaments. Das Buch hatte es schwer, überhaupt in den Reigen der biblischen Bücher, den sogenannten Kanon aufgenommen zu werden. Immer gab es Bemühungen es wieder herauszunehmen. Im vierten Jahrhundert gar wurde schon einmal das private und öffentliche Lesen des Buches verboten. Auch die Reformatoren bezweifelten in großer Einigkeit die Zugehörigkeit zu den kirchlichen Schriften. So wurde es über die Jahrhunderte bis heute von den Rändern her gelesen. Kirchliche und gesellschaftliche Randgruppen beriefen sich auf die Offenbarung: Gruppen, die sich daran machten mit Hilfe der Zahlensymbole und der apokalyptischen Bilder von Feuer, Erdbeben und Zerstörung Endzeitberechnungen anzustellen ebenso wie der radikale Flügel der Reformation.
Aber auch moderne Bewegungen wie etwa die lateinamerikanische Befreiungstheologie, Theologen der Antiapartheid-Bewegung in Südafrika und der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA ließen sich von der Offenbarung inspirieren.

Es stimmt schon, das Buch ist voller phantastischer Bilder und geradezu grotesker Visionswelten, die schwer fassbar sind und sich rationalen Erklärungen schnell wieder entziehen. Und was wir nicht fassen können, macht die einen misstrauisch, die anderen neugierig, die dritten ängstlich und die, die Macht haben, fürchten die nicht zu kontrollierende Aneignung des Buches, die Anarchie.

Eigentlich befinden wir uns doch dann heute hier am ersten Advent in guter Gesellschaft. Als Vision aller Frauenhilfearbeit „die Fülle des Lebens für alle Menschen“ zu formulieren und daran unsere Ziele und Maßnahmen auszurichten, ist kühn. Wir hoffen darauf, dass Gott dieser Vision ausreichend Nahrung, ausreichend Bilder und Worte und Klänge schenkt. Wir setzen uns dem Risiko aus, dass wir verzagen, dass unsere Hoffnung zu Schanden wird.
Die politischen Visionen der Offenbarung sind prophetische Anklagen von Ausbeutung und Unterdrückung. Sie sind tragende Visionen von Gottes Gerechtigkeit. „Ich bin das A und O, der Anfang und das Ende. Ich will dem Durstigen zu trinken geben aus der Quelle des Lebenswassers, umsonst.“

Täter bleiben nicht unerwähnt: Mörder, feige Menschen, Lügner müssen sich auf das Gericht einstellen.

Die Offenbarung - Vision einer gerechten Welt - wir haben am Ewigkeitssonntag auf sie gehört, sie ist uns Trost in unserer Trauer um unsere geliebten Toten gewesen. Gott wird abwischen alle Tränen … Mit dieser Verheißung konnten wir uns in die Zwischenzeit der vergangenen Woche begeben. Ganz persönlich getröstet und als Verband in unseren Hoffnungen bestärkt, als wir uns daran machten, uns zu den nationalistisch-rassistisch motivierten Morden in Deutschland zu äußern.

Gott wird abwischen alle Tränen …  - nicht nur am Ewigkeitssonntag und in der Woche danach brauchen wir diesen Trost. Wir erleben sie immer und immer wieder, ob im Advent oder sonst wann: diese persönlichen Zwischenzeiten: zwischen Verzweiflung und Hoffnung, zwischen Verzagtheit und Mut, zwischen Trauer und Zuversicht. Manchmal geraten wir ganz plötzlich, scheinbar ohne jeden Anlass, in eine solche Zwischenzeit und sind uns selbst ein Buch mit sieben Siegeln. Manchmal geraten wir unvermittelt von einer Seite zur anderen, machen gewissermaßen einen Zeitsprung. Wie wir uns im Advent dem Geheimnis Gottes nähern, kommen wir uns - wenn es gut geht – auch selbst wieder auf die Spur. Wir haben im Advent die Chance, in Beziehung zu Gott, unsere eigene Bauanleitung in Teilen zu entschlüsseln.

„Der volle Klang einer anderen Welt..“ Viele suchen in der Offenbarung nach einer Sprache der Hoffnung, Nach einer Sprache der Befreiung inmitten einer Welt von Armut, Hunger und Zerstörung. Martin Luther King knüpfte in einem Brief aus dem Gefängnis an die Offenbarung an, ebenso der südafrikanische Theologe Allan Boesak. Der Widerstand gegen die atomare Bewaffnung und die Nutzung der Atomenergie nahm den Klang der Offenbarung auf. Visionäre Texte Dorothee Sölles und der große Traum Kings stimmen in ihre Melodie ein. Es ging ihnen allen um die begeisterte Zusage von Gottes Menschlichkeit, von seiner Gerechtigkeit und Freundlichkeit.

„Der volle Klang einer anderen Welt“ das große Heilig, Heilig ist Gott der Herr Zebaoth als Hoffnungs- und Befreiungslied.

Auf Gott hin sollen wir uns heute ausrichten: unsere Augen, unsere Ohren und unsere Herzen. Gott lässt den Engel in der Offenbarung schreiben.“Wen ich lieb habe, den weise ich zurecht und erziehe ihn mit Strenge. So setze nun alles daran und kehre um. Siehe ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hört und die Tür auftut, werde ich zu ihm hineingehen und das Mahl mit ihm halten und er mit mir.“

Die im Thronsaal Versammelten fragen sich, wer im Himmel und auf Erden berechtigt und in der Lage ist, das Geheimnis Gottes zu ergründen. Niemand im Himmel und auf der Erde und unter der Erde ist in der Lage das Buch mit dem Geheimnis Gottes zu öffnen und zu betrachten. Alle – alle Boten, alle, auch die merkwürdigsten Lebewesen, die Ältesten und mit ihnen Milliarden und Millionen himmlischer Lebewesen verweisen auf den einen, stark wie ein Löwe, aus der Familie des David, opferbereit und geschlachtet wie ein Lamm. Alle verweisen auf Jesus, den Christus, den Gesandten der Liebe Gottes - wie wir eben bekannt haben.

„Und alle Geschöpfe, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde und auf dem Meer und alles, was darin ist, hörte ich sagen: Dem, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm sei Lob und Ehre, Preis und Stärke von Ewigkeit zu Ewigkeit. Und die vier Gestalten sprachen: Amen. Und die Ältesten warfen sich nieder und beteten an.“

„Der volle Klang einer anderen Welt“ - Wenn es uns doch im Advent gelingen könnte, ihn zu hören. Ein großes Geschenk ist, wenn wir sogar einstimmen können. Vielleicht nicht ganz so volltönend, aber immerhin. Unter Umständen müssen wir uns jedoch mit den Klopfzeichen an der Tür begnügen und schon froh sein, wenn wir die wahrnehmen können. Ob voller Klang oder Klopfzeichen, es geht immer um das gleiche Geheimnis und die gleiche Herausforderung. Es geht darum, zu wissen, zu erfahren, vor wem alleine wir uns neigen und niederknien sollen: ob nun im Lichte eines großen Thronsaals und wohlklingend mit allen Engeln wie im Text der Offenbarung oder beim Licht einer Öllampe mit den Hirten im Stall; ob nun allein mit einer ersten kleinen Kerze irgendwo auf der Welt oder in großen Kirchen und Konzertsälen beim Weihnachtsoratorium.

„Der volle Klang einer anderen Welt“ und die „Vision einer gerechten Welt“ - beide Überschriften ergänzen sich und helfen uns, bei der Entschlüsselung des Geheimnisses der Ankunft Gottes bei den Menschen. Der Vision von einer anderen Welt, von der Welt wie sie nach Gottes Willen sein soll, gibt Gott selbst Nahrung. Die Buchrolle mit den sieben Siegeln, die Thora und die prophetischen Bücher enthalten seine Bauanleitung und seine Verheißungen für die Welt. Wir lesen sie jedes Jahr – auch im Advent und zu Weihnachten. Die Umstände der Geburt Jesu - angefangen bei der Ankündigung an die junge Maria bis hin zu Stall und Hirten im Lukasevangelium - die gerechte Welt Gottes wird sich klein, niedrig, arm - von den Rändern her durchsetzen. Zugleich jedoch wird sie von Anfang an den vollen Klang einer anderen Welt in sich tragen. Denn die Engel und mit ihnen das Heer der himmlischen Heerscharen ließen ihre Stimmen auch am äußersten Rand des römischen Imperiums irgendwo über den Feldern erklingen.

Dieses Zusammenspiel von vollem Klang einer anderen und Vision einer gerechten Welt soll unserer Hoffnung Nahrung geben und uns durch den Advent geleiten. Unsere Hoffnung ist, dass Gott Nähe stiftet und Hass überwindet, dass er die Verlassenen besucht und
Gemeinschaft stiftet, dass Vergebung und neue Anfänge möglich werden.
Dann können wir entweder einstimmen in das große Heilig, Heilig der Engel und Erzengel, Mächte und Gewalten, oder mit Dietrich Bonhoeffer etwas leiser hören, wenn sich die Stille tief um uns breitet, auf „jenen vollen Klang der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet, all deiner Kinder hohen Lobgesang“. Bonhoeffer hat diesen Klang einer andern Welt 1944 hören können und uns damit eine große Vision einer gerechten Welt überlassen. Wir werden niemals im Besitz einer vollständig entschlüsselten Bauanleitung sein. Aber jedes Jahr am ersten Advent dürfen wir neu hören, lesen, sehen, schmecken, fühlen wie Gott sich uns erschließen will.

Amen