Dokumentation

33 Jahre Frauenhaus Soest | 05.05.2023

Birgit Reiche

Andacht von
Pfarrerin Birgit Reiche

Leitende Pfarrerin der
Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen e.V.

Lasst uns miteinander Andacht halten im Namen Gottes.
Gott ist der Grund unseres Lebens.
Jesus Christus lädt alle Menschen in das Reich Gotte ein. Gottes Geist stärkt Frieden und Gerechtigkeit unter uns.
Amen.

Liebe Fest-Versammlung,
liebe Gemeinde auf Zeit,
ich stelle diese Andacht unter den Monatsspruch für den Monat Mai. Er lautet: „Weigere dich nicht, dem Bedürftigen Gutes zu tun, wenn deine Hand es vermag.“

Als Evangelische Frauenhilfe haben wir eine lange Verbindung mit Jahreslosungen und Monatssprüchen, weil unser Dachverband - früher die Evangelische Frauenhilfe in Deutschland und in ihrer Nachfolge die Evangelischen Frauen in Deutschland - Mitglied der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen ist.
In einem demokratischen Prozess werden von den Mitgliedern die Jahreslosung und die Monatssprüche ausgewählt.

Birgit Reiche

Nicht immer passen die Monatssprüche auch inhaltlich so gut zum Anlass, wie dieser aus dem Buch der Sprüche zu unserem heutigen Jubiläum des Frauenhauses:
„Weigere dich nicht, dem Bedürftigen Gutes zu tun, wenn deine Hand es vermag.“
So übersetzt die Lutherbibel diesen Spruch. Etwas deutlicher wird die Basisbibel: „Wenn jemand deine Hilfe braucht, verweigere sie nicht! Kannst du ihm helfen, dann tu es auch!“
In der Bibel in gerechter Sprache heißt der Satz
„Verweigere das Gute nicht denen, die es verdienen, wenn es in deiner Macht steht.“
Vor mehr als zweieinhalbtausend Jahren sind diese Verse des Sprüchebuches wahrscheinlich entstanden. Die weisheitlichen Texte fordern die Menschen zu einer Lebensweise auf, die an der Gerechtigkeit und Weisheit ausgerichtet ist.
„Weigere dich nicht, dem und der Bedürftigen Gutes zu tun, wenn deine Hand es vermag.“

Gehören Frauen und Kinder, die zu Hause Gewalt erlebt haben, zu den Bedürftigen? Gehören sie zu denen, die Hilfe brauchen, verdienen sie Gutes? Wir, die wir heute hier zusammengekommen sind, um das Jubiläum des Frauenhauses zu begehen, werden das nicht bezweifeln. Zu Zeiten, als das Frauenhaus gegründet wurde, war das noch nicht selbstverständlich.
Erst vor fast 26 Jahren - nämlich am 15.05.1997 wurde der Gesetzentwurf angenommen, der seitdem sexuelle Gewalt auch in der Ehe unter Strafe stellt. Erst seit 2016 fällt jede sexuelle Handlung gegen den „erkennbaren Willen“ einer/ eines Dritten unter Strafe. Erst damit wurde der Grundsatz „Nein heißt Nein“ im Strafgesetzbuch aufgenommen.

Viel zu lange hat sich unsere Gesellschaft, haben sich Politik und Polizei, haben sich Kirche und Justiz geweigert, diesen bedürftigen Frauen und Kindern Gutes zu tun. Der vermeintliche Schutz von Ehe und Familie wurde juristisch und ethisch über den Schutz der von Gewalt betroffenen Frauen gestellt.

Dass die Bereitstellung von Schutzangeboten für von Gewalt betroffene Frauen ein diakonischer Auftrag ist, war 1977, als das erste autonome Frauenhaus in Berlin die Türen öffnete, keine Selbstverständlichkeit.

Und auch in unserem Verband gab es in den Anfangsjahren des Frauenhauses Anfragen, wenn auch die breite Mehrheit unserer Mitglieder das Frauenhaus von Anfang an unterstützt haben.
Einige Zeitzeuginnen sind unserer Einladung gefolgt und können nachher beim Imbiss dazu befragt werden.

Die vielen Hände unserer Mitgliedsfrauen vermochten es, den nicht unerheblichen finanziellen Eigenanteil an den Betriebskosten des Frauenhauses aufzubringen. Durch Spenden – nicht nur von ihnen, sondern auch von vielen Privatpersonen und auch Stiftungen - und aus den Mitgliedsbeiträgen ist für die Frauenhausarbeit in den mehr als drei Jahrzehnten ein hoher sechsstelliger Euro-Betrag zusammengelegt worden.
„Weigere dich nicht, dem und der Bedürftigen Gutes zu tun, wenn deine Hand es vermag.“

Birgit Reiche

So hilfreich die vielen Spenden für das Frauenhaus waren und sind – sie sind auch ein Skandal. Denn schon längst hat Deutschland mit der Ratifizierung der Istanbul-Konvention anerkannt, dass die Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen, dass der Schutz der Betroffenen ein gesellschaftlicher Auftrag ist. Und immer noch wird ein Eigenanteil von Trägerinnen für diese Arbeit erwartet. Ich bin nicht genau informiert, aber muss auch die freiwillige Feuerwehr für ein neues Löschfahrzeug einen Eigenanteil von 10 oder 20 % leisten?
Ich hoffe, nicht!

Auf die Umsetzung der Istanbul-Konvention hier im Kreis Soest trifft zu, was Dietrich Bonhoeffer zur Auslegung dieses Bibelverses gesagt hat:

„Weigere dich nicht, dem Bedürftigen Gutes zu tun, wenn deine Hand es vermag“ (Sprüche 3, 27).

„Wer ist der Dürftige? Jeder von uns.
Wer ist der, der von Gott empfangen hat zu geben? Jeder von uns.
Weigere dich nicht – auf die Bitte nicht sofort nach Gründen suchen, sie auszuschlagen (Sprüche 3, 28) – recht geben heißt Gottes Gaben weitergeben, dass sie nicht als meine, sondern als Gottes Gabe erkannt wird.
Die größte Gabe Gottes: Christus.
Weigere dich nicht.
Nicht hinausschieben, was du heute tun kannst, du machst deinen Tag ärmer. Es kann morgen zu spät sein.
Hilfe ist nur dann Hilfe, wenn sie gebraucht wird, nicht wenn es mir gefällt, sie anzubieten. – Verschieben bedeutet ein Nicht-ernstnehmen der letzten Entscheidung des Todes.
Jede Bitte kann letzte Entscheidung über uns sein. Mit geplanten guten Taten rechtfertigen wir uns häufig.
Wir kommen uns gerecht vor, weil wir Gutes zu tun bereit sind, aber auf das Tun allein kommt es an.“ 1

Amen.

1Quelle: Illegale Theologenausbildung: Finkenwalde 1935-1937, DBW Band 14, Seite 868