Dokumentation

25 Jahre Haus Wegwende | 15.09.2023

Birgit Reiche

Begrüßung und Andacht von
Pfarrerin Birgit Reiche

Leitende Pfarrerin der
Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen e.V.

Liebe Bewohnerinnen und Bewohner von Haus WegWende,
liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,
liebe Festgäste, die von Nah und Fern zum 25jährigen Jubiläum angereist sind,

wer von Ihnen unser Haus Wegwende kennt, weiß, dass es nicht erst 1998 gebaut worden ist. Seit 1963 befindet sich das Gebäude „Haus Wegwende“ im Besitz der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen.
Es hat eine wechselvolle Geschichte erlebt: zunächst wurde es als Mütterkurheim für die Genesung von Frauen genutzt. 
Ab 1984 wurde es zum „Übergangswohnheim für psychisch kranke Menschen“. Damit begann die Evangelische Frauenhilfe in Westfalen, sich ausdrücklich für Menschen mit psychischen Erkrankungen zu engagieren.
1993 wurde das Wohnangebot verändert und der Schwerpunkt auf die Rehabilitation für psychisch kranke Menschen gelegt. Und 1998 wurde das Wohnangebot im Hause wiederum verändert und das „Wohnheim für psychisch behinderte Menschen“ errichtet.

Das Haus am Haselweg blickt im Jahr 2023 auf sein 25-jähriges Bestehen als Wohnheim für Menschen mit psychischen Behinderungen zurück. Das haben wir zum Anlass genommen, Sie und Euch alle zu dieser Feierstunde einzuladen.

Doch zu Beginn unseres Zusammenseins möchte ich eine kurze Andacht halten und unser Miteinander unter den Segen Gottes stellen.

Und so lasst uns Andacht halten im Namen Gottes.
Gott ist der Grund unseres Lebens, Jesus Christus lädt alle Menschen in das Reich Gottes ein.
Gottes Geist stärkt Frieden und Gerechtigkeit unter uns. Amen.

Das Bibelwort, das wir über die Einladung gestellt haben: „Siehe ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst“ entstammt einem Traum.
Es ist der Traum Jakobs, eines Mannes aus dem Alten Testament.
Jakob ist alles andere als ein Heiliger. Was er erreichen will, setzt er durch, mit allen Mitteln. Er führt den Vater hinters Licht, er betrügt den Bruder um seinen Segen, er scheint sein Recht auf Glück zu verspielen.
Dass er in der Nacht, in der ein Traum sein Leben verändert, sein Haupt auf einen Stein bettet, können wir auch symbolisch lesen: Es ist kein sanftes Ruhekissen, das Jakob sich verdient hätte.
Nun liegt er da, es ist dunkel. Da geschieht es:
Und ihm träumte, und siehe, eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder. Und der Herr stand oben darauf und sprach: Ich bin der Herr, der Gott deines Vaters Abraham, und Isaaks Gott; das Land, darauf du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. Und dein Geschlecht soll werden wie der Staub auf Erden, und du sollst ausgebreitet werden gegen Westen und Osten, Norden und Süden, und durch dich und deine Nachkommen sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden. Und siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land. Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe. (Gen 28, 12 - 15)

Birgit Reiche

Auf der Flucht, in der Schuld fängt für Jakob der Weg zum Himmel an. Er liegt am Boden, als Gott ihm zeigt, dass er an dem festhält, was er für Jakob im Sinn hat. Einmal wird es sein.
Und Jakobs Blick, zuvor gefangen, weitet sich: Was er in der Nacht gesehen hat, gibt ihm Mut für seinen Weg und eine Perspektive.
Als er erwacht, richtet er seine Schritte an der Wirklichkeit aus, die Gott ihm in den Himmel gemalt hat.
Man läuft leichter, wenn man um den Sinn des Laufens weiß.
Jeder Schritt, das ahnt Jakob jetzt, bringt ihn seinem Ziel ein Stück näher.

Der Weg, den Jakob weitergeht, ist deshalb noch lange nicht zu Ende: Jakob wird später noch einmal fliehen, er wird mit Gott ringen, sich einen neuen Namen verdienen müssen, bevor dann die Begegnung und die Versöhnung mit dem Bruder anstehen.

Jakobs Weg ist kein leichter. Aber eine Vision gibt ihm Kraft, und er scheint damit bereits auf Erden einige Sprossen auf der Himmelsleiter erklimmen zu können.

Siehe ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst.
Träume von Himmel und Erde durchziehen die Bibel von Anfang an.
Menschen haben sie geträumt, weitererzählt und schließlich aufgeschrieben.

Auch die Geschichte von der Erschaffung der Welt, Hymnus auf den Ursprung unseres Glaubens, liest sich bereits, als ob Gott sich damit einen Traum erfüllt: Himmel, Erde, Luft und Meer. Das helle Sonnenlicht. Die funkelnden Sterne am Nachthimmel. Der Mond, einmal Sichel, einmal weißschimmernder runder Ballon. Die Wälder, dunkel und dicht, dann wieder lichtdurchflutet. Die weiten Wiesen. Der Flug der Vögel, das Gewimmel der kleinen und großen Tiere an Land. Zuletzt dann, so scheint es, verleiht Gott seiner größten Sehnsucht Gestalt: Er schafft den Menschen.

Er tut es nicht, weil er einen Untertanen braucht. Nein, Gott erschafft sich den Menschen als sein Gegenüber, nach seinem Bild.
Und siehe, es war sehr gut.
Siehe ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst.

Wie auch immer ein Lebensweg später verlaufen mag: Am Anfang steht der Traum Gottes. Es tut gut, sich das ins Gedächtnis rufen zu lassen.

Dorothee Sölle, die großen Theologin, hat das immer wieder mit ebenso berührenden wie entschiedenen Worten getan. Sie hat erinnert daran, wie diese Welt in biblischer Tradition gedacht ist – gerecht, frei, geschwisterlich -, und sie hat diese Erinnerung mit dem Appell verbunden, sich für eine solche Welt zu engagieren.

Die Kraft dazu gibt der Glaube daran, dass am Anfang eines jeden von uns die Sehnsucht Gottes nach einem aufrechten und freien Menschen steht:
Du hast mich geträumt gott
wie ich den aufrechten gang übe
und niederknien lerne
schöner als ich jetzt bin
glücklicher als ich mich traue
freier als bei uns erlaubt

Hör nicht auf mich zu träumen gott
ich will nicht aufhören mich zu erinnern
dass ich dein baum bin
gepflanzt an den wasserbächen
des lebens 1

Der Anfang ist gut: Gott träumt die Welt, bunt und schillernd, und den Menschen: frei, aufrecht und schön.
Siehe ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst.

Birgit Reiche

Doch dann beginnt in der Bibel der Teil der Geschichte, in dem wir uns bis heute bewegen: Es ist die Erzählung vom Menschen, der das Paradies zerstört, der das Glück anderer zerbricht und selbst an dem leidet, was andere und das Leben ihm an Wunden schlagen.
Und siehe, es war sehr gut?
Die Welt, so wie sie ist, spricht nun allzu oft diesem Urteil Hohn.
Wir Menschen auch. Schon in der Bibel. So auch in der Geschichte des Jakob.
Doch auch ihm hat Gott diesen Segen zugesprochen:
Siehe ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst.

Jakob findet einen Ort, an dem er das erlebt, und andere Menschen nach ihm, durch die Zeiten hinweg.

Anderen hingegen scheint das Leben solche Orte, an denen sich Himmel und Erde berühren, vorzuenthalten, Visionen, die beflügeln, Himmelsleitern, die nach oben führen.
Stattdessen geschieht so vieles zwischen Himmel und Erde, das unbegreiflich ist und manchmal auch einem Albtraum gleicht.
Warum das so ist, wissen wir nicht.
Die Bibel erklärt es nicht, sie redet die Welt auch nicht schön.

Was sie aber den Menschen mitgibt, ist ein Versprechen: Der Anfang allen Lebens war gut, und einmal wird es sein, dass wir die Fülle erleben.
Einmal wird es sein – und bis dorthin bleibt uns, wie Jakob aufzustehen, weiterzugehen, im Vertrauen darauf, dass es auch einen Traum Gottes für unser Leben gibt, so verwirrt und beladen es auch manchmal scheinen mag.

Vielleicht blitzt hin und wieder etwas auf davon, schon jetzt: Dann etwa, wenn wir nicht fixiert darauf sind, dass wir auf der Himmelsleiter nicht ganz oben angelangt sind, sondern wertschätzen lernen, dass wir zumindest einige Sprossen hinaufgestiegen sind.
Oder dann, wenn wir auf andere Menschen hören, denen gerade der Blick auf eine andere Wirklichkeit, eine Welt in Gottes Sinn geschenkt wird. Menschen, die uns mit ihren Visionen ermutigen.
Siehe ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst.

Von Jakob ist uns einige Kapitel weiter noch eine andere Nachtgeschichte überliefert. Und eine andere Segensgeschichte. Dort kämpft Jakob nachts am Fluss Jabbok mit einem Mann, einem Boten Gottes, oder Gott selbst? Und im Kampf fordert er den Segen dessen, mit dem er kämpft: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.
Und er erringt im wahrsten Sinne des Wortes einen zweiten Segen:
Siehe ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst. Amen.

Lasst uns beten:
Gott des Lebens,
wir bitten dich für Haus WegWende,
für alle, die darin wohnen,
für alle, die darin arbeiten
und für alle, die ein und aus gehen.
Mach, dass sich alle, die in Haus WegWende wohnen,
darin geborgen und wohl fühlen.
Lass dieses Haus
ein Ort der Geborgenheit, der Sicherheit und der Gemeinschaft sein.
Hilf zu Freundlichkeit und Rücksichtnahme im Umgang miteinander.
Schenke allen, die darin wohnen und arbeiten, friedvolle und schöne Stunden.
Bewahre Haus WegWende und alle, die darin wohnen,
vor allem Übel und allem Bösen.
Erfülle Haus WegWende mit deiner Wärme und Güte,
ja, erfülle es ganz einfach mit deinem Segen.
Gott, segne Haus WegWende und mach es zu einem Segen für viele.
Nimm dein Erbarmen nicht von uns,
sondern handle an uns in deiner Milde
und leite unser Leben in Frieden.
Amen

1Auszug aus dem Gedicht: Dorothee Sölle: Ich dein Baum. In: Loben ohne Lügen, Wolfgang Fietkau Verlag.