10 Jahre TAMAR Südwestfalen | 01.10.2024
Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V.
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Männer und Frauen,
wir freuen uns, dass Sie der Einladung zum Fachtag aus Anlass des 10jährigen Bestehens der Beratungsstelle Tamar gefolgt sind.
Mein Name ist Birgit Reiche und ich bin Leitende Pfarrerin und Geschäftsführerin der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen e.V. Bevor ich diese Position eingenommen habe, habe ich 20 Jahre lang die Arbeit für Betroffene des Menschenhandels und Prostituierte der Frauenhilfe aufgebaut und geleitet.
Genau vor 10 Jahren haben wir dank einer Förderung von Aktion Mensch die Arbeit in Südwestfalen aufgenommen. Sabine Reeh-Bender war von Anfang an dabei. Noch vor Einführung des Prostituiertenschutzgesetzes hat sie sich mit ihrer damaligen Kollegin an die Arbeit und auf den Weg in Südwestfalen gemacht. Wir könnten uns jetzt hinsetzen und Anekdoten erzählen und wären heute Abend noch nicht fertig…
Das tun wir aber nicht. Doch will ich auch am heutigen Tag nicht verschweigen, dass der Kampf um die Finanzierung dieser wichtigen Arbeit uns viel Kraft und so manche schlaflose Nacht gekostet hat. Etliche meiner grauen Haare verdanken sich der Sorgen um den Fortbestand dieses wichtigen Arbeitsbereiches der Frauenhilfe.
Bevor wir uns gleich in den Grußworten anhören, was andere zu unserer Arbeit und ihren politischen Implikationen zu sagen haben, lassen Sie uns zur Ruhe kommen und miteinander Andacht halten.
Wir tun das im Namen Gottes,
Gott ist der Grund unseres Lebens.
Jesus Christus lädt alle Menschen in das Reich Gottes ein.
Gottes Geist stärkt Liebe und Gerechtigkeit unter uns. Amen.
„Mache den Raum deines Zeltes weit,
breite die Zeltplanen deiner Wohnung aus, spare nicht!
Mach deine Zeltseile lang, ramme deine Zeltpflöcke fest!“
Ich möchte mit Ihnen nachdenken über diesen Vers aus dem Jesaja-Buch im 54. Kapitel. Der Teil des Jesaja-Buches, aus dem dieser Text stammt, ist im 6. vorchristlichen Jahrhundert entstanden. Er stammt von Deutoro-Jesaja oder dem zweiten Jesaja, wie dieser Prophet oder die Prophetengruppe genannt wird, die diese Texte geschrieben haben. Der Text richtet sich an die Teile der israelitischen Bevölkerung, die ab 597 v.Chr. nach Babylonien verschleppt worden sind. Es waren vor allem Menschen der Oberschicht, die in Babylon allerdings nicht versklavt waren, aber in der Fremde den Kontakt zu ihrem Glauben zu verlieren drohten.
Dieses Volk wird nun durch den prophetischen Text von Gott angesprochen:
Jubele, du Unfruchtbare, die nicht geboren hat! Brich in Jubel aus und jauchze, die du nicht schwanger warst! Denn zahlreicher sind die Kinder der Verwüsteten als die der Ehefrau, spricht Gott.
Mache den Raum deines Zeltes weit,
breite die Zeltplanen deiner Wohnung aus, spare nicht!
Mach deine Zeltseile lang, ramme deine Zeltpflöcke fest!
Der Text beginnt mit einer Aufforderung zum Jubel und zur Freude: Juble! Freue dich und jauchze! Es ist Freude in schwieriger Zeit. So wie auch unsere Freude über das Jubiläum der Beratungsstelle eine Freude in schwieriger Zeit ist.
Damals ging es um Fragen der religiösen und ethnischen Identität in einem fremden Land:
Ist Gott noch da? Hat er Macht, oder sind wir anderen Mächten – den babylonischen Göttern und Herrschern – ausgeliefert? Kann Gott eingreifen? Und wenn ja – will er es überhaupt? Kümmert ihn unser Schicksal, oder ist ihm unser Ergehen gleichgültig? Gefühle der Verlassenheit und des Preisgegeben-Seins kommen hoch.
Diese Gefühle werden mit dem Bild der unfruchtbaren Frau ausgedrückt, die aber ihr Schicksal nicht bejammern soll, sondern zum Jubel aufgefordert wird. Durch Gott selbst wird ihr eine große Zukunft verheißen, eine reiche Nachkommenschaft, für die der Raum des Zeltes erweitert werden soll.
Unsere Jubiläumsfeier bedeutet ebenfalls Freude in schwieriger Zeit: Haben wir nicht genug Probleme nach Corona, mit der Klima-Katastrophe, dem Krieg im Nahen Osten, der zu einem Flächenbrand zu werden droht, dem Ukraine-Krieg mit allen wirtschaftlichen Auswirkungen und den gesellschaftlichen Verwerfungen bei uns, die sich in erschreckenden Wahlergebnissen spiegeln? Muss sich diese Gesellschaft nicht um wichtigeres kümmern? Es gibt bei uns so viele Beratungsstellen. Müssen es dann auch noch spezielle Angebote für Prostituierte sein?
Kann unser Glauben helfen, diese oftmals schwierige Arbeit zu tun?
Die Unfruchtbare wird hier als gebrochene Existenz dargestellt, als „Verwüstete“ – oder Vereinsamte, Verwaiste, Einsame, Verlassene, wie andere Bibeln übersetzen.
Das ist die Lebenserfahrung auch vieler der Frauen, die durch die Beratungsstelle Tamar in den vergangenen 10 Jahren Unterstützung erhalten haben. Dabei machte es nur graduelle Unterschiede der persönlichen Leiden, ob die Frauen wirklich kinderlos waren, die Kinder in der Heimat zurückgelassen hatten oder ungewollt schwanger waren…
Wenn sie in die Beratung kamen und kommen, sind viele von ihnen in existenzieller Not: Sie sind häufig von ihren Lebenswegen schwer gezeichnet. Sie leiden unter der Trennung von ihren Kindern, die sie in der Heimat zurückgelassen haben. Sie leiden unter der Stigmatisierung, die sie erfahren, wenn ihre Tätigkeit oder ihr Beruf bekannt werden. Sie leiden unter auswegloser Armut, fehlenden Bildungschancen und Perspektivlosigkeit in ihrer Heimat.
Jubele, du Unfruchtbare, die nicht geboren hat! Brich in Jubel aus und jauchze, die du nicht schwanger warst! Denn zahlreicher sind die Kinder der Verwüsteten als die der Ehefrau, spricht Gott.
In biblischer Zeit war Kinderreichtum die einzige Lebensversicherung für Frauen. Gott verheißt hier Wohlergehen gegen allen Anschein und Freude und Jubel statt Trauer und Tränen an den Flüssen von Babylon.
Und auch das haben Sie erlebt in Ihrer langjährigen Tätigkeit, liebe Mitarbeiterinnen von Tamar:
Frauen, an deren erfolgreichen Lebensgeschichten Sie inzwischen manchmal auch Jahre lang Anteil nehmen konnten, weil sie sich von Zeit zu Zeit bei Ihnen melden.
Frauen, die überglücklich sind, weil der Nachzug der Kinder aus der Heimat gelungen ist und sie ihnen hier eine hoffentlich sichere Zukunft bieten können.
Frauen, die für sich in oder außerhalb der Sexarbeit eine gute Perspektive sehen.
Die Freude, der Jubel, das Jauchzen der Frauen, die Erfolge in der Begleitung, der positive Abschluss von Beratungsprozessen – das alles sind für Sie Anreize, diese schwierige Arbeit auch nach Jahren weiter zu leisten.
Wir haben im übertragenen Sinne getan, wozu der prophetische Text die Exilierten in Babylon auffordert:
„Mache den Raum deines Zeltes weit,
breite die Zeltplanen deiner Wohnung aus, spare nicht!
Mach deine Zeltseile lang, ramme deine Zeltpflöcke fest!“
Wir haben seit 10 Jahren unsere Zelte in Südwestfalen und dann auch im Münsterland weit gemacht. Seit den Anfängen der Beratungsarbeit von Tamar haben wir mehr Boden gefasst. Zum Beratungsbulli ist mit der Ausdehnung ins Münsterland ein PKW dazu gekommen, doch aufgrund der fehlenden Finanzierung mussten wir den Stellenumfang von vier auf zwei und dann wieder auf drei Stellen verändern.
Das Bibelwort sagt zwar: Spare nicht! Wir waren aber aufgrund der unsicheren und knappen Fördersituation immer gezwungen zu sparen und wussten in so manchem November nicht, wen wir im Januar weiter beschäftigen konnten.
Womit wir die ganze Zeit nicht gespart haben, das ist die Vernetzung. Wir haben – um in der Sprache des biblischen Textes zu bleiben – unsere Zeltseile langgemacht. Die Gästeliste des heutigen Tages zeigt, wie erfolgreich unsere langjährige Vernetzungsarbeit in die Beratungsinfrastruktur in Südwestfalen und das Münsterland hinein, in Behörden und Politik, in die landes- und bundesweiten Fachverbände und –Gruppen wirkt. Allein, ohne vertrauensvolle Zusammenarbeit aber auch manche konstruktive Auseinandersetzung, können wir unsere Arbeit zum Wohl der Klientinnen nicht leisten. Es braucht dieses starke Netzwerk, um gemeinsam an einer Verbesserung ihrer rechtlichen Situation und Lebensperspektive zu arbeiten – allen Widerständen zum Trotz!
Und ich hoffe, dass wir unsere Zeltpflöcke fest eingerammt haben! Ich hoffe, dass die kommunalen Förderungen für Tamar sicher bleiben und dass das regelmäßige Bangen um den Fortbestand endlich ein Ende hat. Wir haben unsere politischen Forderungen zur Anerkennung von Sexarbeit vor jeder Wahl ins Gespräch gebracht, wir haben Politiker*innen unsere Arbeit vorgestellt, wir haben notwendige Spenden und kirchliche Kollekten eingeworben.
Dafür sind wir dankbar, darauf sind wir aber auch ein bisschen stolz!
10 Jahre sind eine lange Zeit, in der wir viel erlebt und viel erreicht haben.
Ich bin überzeugt, dass uns der lange Atem nicht erhalten geblieben wäre, ohne das fürbittende Gebet unserer Mitgliedsfrauen, ohne ihre finanzielle und tatkräftige Unterstützung, insbesondere durch die Bezirksvorstände der Siegerländer Frauenhilfen und des Bezirksverbandes Münster und ohne den begleitenden Segen Gottes, der uns immer wieder Kraft gab, weiter zu machen.
„Mache den Raum deines Zeltes weit,
breite die Zeltplanen deiner Wohnung aus, spare nicht!
Mach deine Zeltseile lang, ramme deine Zeltpflöcke fest!“
Der Textabschnitt endet mit der Zusage Gottes, die weit über den heutigen Tag hinausweist und die uns Kraft und Zuversicht geben will, für alles, was wir im Raum unseres Zeltes noch erleben werden:
Denn Berge mögen wohl weichen und Hügel wanken,
aber meine Treue wird nicht von dir weichen und mein Friedensbund nicht wanken, spricht Gott voll tiefer Liebe. Amen.
Lasst uns beten:
Gott aller Zeiten,
du weißt um unsere Sehnsucht
nach der Fülle des Lebens für alle Menschen.
In dir ist die Liebe, die uns umgibt und ewig umgeben wird.
In dir ist die Hoffnung, die uns aus der Gebrochenheit zur Ganzheit führt.
In dir ist der Friede, für den wir einstehen und um den wir beten.
Erfülle uns mit deiner Liebe, deiner Hoffnung, und deinem Frieden, damit dein Reich der Gerechtigkeit immer mehr Wirklichkeit werde. Amen