Dokumentation

Eröffnung der Frauenberatung Soest | 24.11.2022

Birgit Reiche

Andacht von
Pfarrerin Birgit Reiche

Leitende Pfarrerin der
Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen e.V.

Liebe Mitarbeiterinnen der Frauenberatung,
liebe Gäste, die Sie sich heute haben einladen lassen, zur Eröffnung der „Frauenberatung Soest“.

Vor fast zwei Jahren haben wir mit der Arbeit begonnen, seit August 2022 hat Sawina Kordistos das Team komplettiert. Sie drei sind in ihren Aufgaben im Alltag angekommen. Das heutige Fest soll diesen Alltag durchbrechen.
Diese Andacht soll Ihre Arbeit auch offiziell unter den Segen Gottes stellen. Denn diese Beratungsstelle wird von der Evangelischen Frauenhilfe getragen. Nach unserer Satzung gilt: „Grundlage aller Frauenhilfearbeit ist die Botschaft der Bibel und das Vertrauen auf die Verheißungen des Evangeliums von Jesus Christus. Die Zuwendung Gottes zu den Menschen wirkt als Befreiungs- und Heilungsgeschehen in die Lebenswirklichkeit von Frauen hinein.“
Unter § 3 Aufgaben des Vereins findet sich schon im Absatz 6 folgende Aussage, die Ihre Arbeit klar beschreibt: „Kontakt- und Beratungsstellen, Ausbildungsangebote und die Arbeit mit von Gewalt betroffenen Frauen und Kindern sind Ausdruck der Parteinahme durch sozial-diakonisches Handeln.“

Birgit Reiche

Doch Sie werden in Ihrem Beratungsalltag immer wieder erfahren, dass die Kirche und der christliche Glaube eben nicht als Befreiungs- und Heilungsgeschehen erlebt werden kann, dass Gottesbilder und Gebote die Macht der Täter zu bekräftigen scheinen, dass Gewalt und Missbrauch viel zu oft auch in kirchlichen und diakonischen Einrichtungen stattgefunden haben und bis heute stattfinden.

Gewalt hat etwas Unfassbares und damit auch Unaussprechbares an sich. Deshalb fühlen wir uns bis in den schweigsam-unbewussten Kern unserer innersten Existenz verletzt, wenn wir Gewalt erleiden, deshalb macht uns weder das Mitleid mit dem missbrauchten Kind noch die Wut auf den Ehemann wirklich sprachmächtig.
Wie aber soll das Antisprachliche, wie soll Gewalt zur Sprache gebracht werden? Das ist mühsam, riskant und gelingt zur Gänze nie.

Es ist nicht leicht, über die Gewalt zu reden, manche Frauen verstummen, ziehen sich ins Schweigen zurück, in das erzwungene und das erlittene Schweigen.
Wie kann die Gewalt beim Namen genannt werden, ohne dass die Frauen, die Gewalt erlitten haben oder erleiden, wieder zum Objekt werden, ohne dass die Sprachlosigkeit fortgeschrieben wird?

Mit der Beratungsstelle wollen wir einen Raum schaffen, in denen über Gewalt so geredet werden kann, wie es den betroffenen Frauen entspricht, in einer Sprache, die aufatmen lässt und in der es möglich ist, frei und ohne Angst zu reden. Hier wird das Schweigen gehört, die leisen, geflüsterten Worte ebenso wie die laute Verzweiflung.

Aber auch in der Präventions- und Bildungsarbeit, die ebenfalls zu Ihrem Auftrag gehört, geht es darum, eine Gegensprache zu entwerfen, die die Gewalt nicht voyeuristisch in unseren eigenen Worten reproduziert - gerade angesichts der geschwätzigen Sprachlosigkeit der Medien zum Thema sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Frauen.

Das Erste Testament verschweigt die Gewalt gegen Frauen nicht. Es hat die Erinnerung an Frauen, die Gewalt ausgeliefert waren, bewahrt. Die Erinnerung an die biblischen Zeugnisse der Gewalt sind schmerzlich, aber sie verbannen die Gewalt nicht in die Sprachlosigkeit.

Birgit Reiche

Der Text aus dem 2. Samuelbuch, die Geschichte vom Leid Tamars, die ich eben gelesen habe, ist ein Beispiel dafür. Nach der Vergewaltigung durch ihren Bruder fordert ihr anderer Bruder Abschalom Tamar auf, über das erlebte zu schweigen. Und sie verstummt in der Erzählung wirklich.

Die Erzählung verhält sich zu seinem Schweigebefehl widerständig, indem sie das Geschehen weitererzählt. Der Schweigebefehl gelingt auf der Ebene der Erzählung - Tamar verstummt - nicht jedoch im Erzählen und Lesen des Textes.

Und mit der Weitererzählung der biblischen Gewaltgeschichten, mit ihrer Auslegung können wir einen Weg einer Antwort auf die Frage „Wo warst du, Gott?“ finden. Das ist der Titel eines spannenden Buches, des Kollegen Andreas Stahl, der Pfarrer und Traumafachberater ist. Der Untertitel seines Buches lautet „Glaube nach Gewalterfahrungen.“

Es ist leicht, in heutiger Zeit den Glauben ganz aus dem Leben zu verbannen, ihm die Relevanz abzusprechen, auch Heilungs- und Wachstumswege aufzuzeigen.
Ein anstrengender – wie ich glaube aber lohnender Weg ist es, die Frage nach Gott nicht aufzugeben.

Wie schmerzhaft das ist, wird in folgendem Text der Gottespoetin Carola Moosbach deutlich.
Sie hat es überschrieben mit „Such- und Klagegebet“1:

Mit der Anrede fängt es schon an Gott
Du unbekannte Größe mit vier Buchstaben
die mir nicht aus der Seele will
Sag mir wie soll ich Dich nennen?
Es ist besser wenn Du nicht zur Familie gehörst Gott
mit denen spreche ich nicht
"Vater" ist der der mir die Seele gemordet hat
der mir beibrachte ein stinkender Lappen zu sein
dazu da seinen Samen zu schlucken
Soll ich Dich wirklich "Vater" nennen Gott?
"Mutter" ist die die mir ein Loch in die Seele brannte
die mich lehrte ein Mülleimer ihrer Sorgen zu sein
Soll ich Dich wirklich Mutter nennen Gott?
Nur gut dass ich keine Schwestern hatte Schwester Gott
aber darunter kann ich mir nichts vorstellen
Und wo warst Du als ich in dem Keller war
und mein Vater über mir Gott?
Als ich vom Rand der Erde gesprengt wurde
um als Gesteinsbrocken
durchs Universum zu kreisen wo warst Du da Gott?
Es stimmt nicht dass man aus Dir nicht herausfallen kann
Und was hast Du zu tun mit diesen schleimigen Pfaffen
die Dich an die Mächtigen verschachern
und familiären Umgang
mit Deinem Bibel-Buch pflegen Gott?
Und was soll ich mit Deiner Liebe anfangen Gott wenn sie
auch meinem Vater gilt?
Ich weiß es gibt da einen Strom
ein zartes Gewebe das die Erde zusammenhält
ein Schweben über den Tönen der h-Moll Messe
und ich weiß das bist Du Gott
aber ich verstehe es nicht und es bringt mich zum Weinen
Bitte finde mich bald Schwester Gott

Amen.

1 Carola Moosbach, "Gottflamme Du Schöne. Lob- und Klagegebete", Gütersloher Verlagshaus, 1997