Dokumentation

5 Jahre TAMAR Südwestfalen | 13.12.2019

Frauenhilfe berät und begleitet durch TAMAR Mädchen und Frauen in Südwestfalen, die in Clubs, Bars, Appartements, Wohnungen, Wohnwagen und Kneipen sexuelle Dienstleistungen anbieten.

Tamar

Sieg der Hoffnung über die Vernunft?

Arbeit der Beratungsstelle TAMAR SÜDWESTFALEN nach 5 Jahren etabliert

Sabine Reeh, Jolanta Schmidt, Katharina Steinbeck und Tanja Mesic klingelten auch in diesem Jahr an vielen Türen in Südwestfalen, steckten vielen Frauen ihre Flyer zu, auf denen in zwölf Sprachen zusammengefasst ist, was sie tun: sich um Prostituierte kümmern. Der letztjährige Jahresbericht der Beratungsstelle TAMAR verrät: Bei 92 Prozent der Frauen handelt es sich um Migrantinnen, zumeist aus Rumänien und Bulgarien, aus Thailand, Polen, Russland und Litauen.

Die Beraterinnen trafen sie in Betrieben an, in Clubs und Bordellen, in Wohnungen oder in Wohnwagen, abgestellt auf Hinterhöfen. „Unsere Arbeit hat sich deutlich etabliert, wir sind akzeptiert“, berichtet Tanja Mesic. Als TAMAR vor fünf Jahren in den Kreisen Siegen-Wittgenstein und Olpe, im Hochsauerlandkreis und im Märkischen Kreis, im Kreis Soest und in Hamm die Arbeit aufnahm, sah das anders aus: Am Anfang seien weder die Frauen noch die Betriebe besonders amüsiert gewesen, erinnert sich Kollegin Sabine Reeh.

Einmal im Monat sind die Beraterinnen in der Region unterwegs, mal im Pkw, mal im diskreten weißen Bulli mit getönten Scheiben, Taxi und Kontaktstelle in einem: Oft sind die Betriebe sehr ländlich gelegen, kommen die Frauen nicht von A nach B – zum Gynäkologen zum Beispiel –, da ergibt sich manches Erstgespräch. “Über Ort und Zeit der Beratung entscheiden die Klientinnen”, erläutert Mesic. ”Wir arbeiten mit einer akzeptierenden, wertschätzenden Haltung und orientieren uns an den Bedürfnissen und Vorstellungen der Frauen.” Ziel sei es, den Prostituierten zu einem selbstbestimmten, sicheren, angstfreien sowie finanziell und emotional unabhängigen Leben zu verhelfen. So würden die Frauen unter anderem über gesetzliche Regelungen der Prostitution in Deutschland informiert und bei Behördengängen begleitet. Die Hilfestellung bei sozialrechtlichen Fragen und Steuerangelegenheiten, bei der Schuldenregulierung und bei Maßnahmen zur beruflichen Integration gehörten ebenso zum Aufgabenspektrum wie die Vermittlung an Drogenberatungsstellen, die Unterstützung beim Ausstieg aus der Prostitution und die Entwicklung neuer Lebensperspektiven. Auch Fragen zu gynäkologischen Untersuchungen sowie zu Kranken- und Sozialversicherungen gehörten zu den vorrangigen Anliegen der Prostituierten.

Die Klientinnen sind zwischen 18 und 60 Jahre alt: „Für uns sind Minderjährige nicht sichtbar.“ Die Frauen seien selbstständige Unternehmerinnen, schaffen in Teilzeit an oder weil die Armut sie zwingt. Die meisten nahmen 2018 psychosoziale Beratung in Anspruch, an zweiter Stelle stehen gynäkologische Untersuchungen. “Viele dieser Frauen sind nicht ausreichend krankenversichert und über gesundheitliche Risiken nicht genügend aufgeklärt”, legt Katharina Steinbeck dar. “Wir verstehen uns als Lotsinnen im Hilfesystem der Region”, ergänzt Jolanta Schmidt.
Immer wieder komme es vor, dass eine Frau nicht Nein sagt, wenn ein Kunde ihr 30 Euro extra für Sex ohne Gummi bietet – auch deshalb, weil sie die Risiken nicht kennt. Gesundheitliche Aufklärung, weiß Leiterin Birgit Reiche zu berichten, sei daher ein großes Thema: „Wir haben eine Zunahme von sexuell übertragbaren Krankheiten, von denen wir dachten, dass es sie in Deutschland nicht mehr gibt.“ Das Problem seien aber nicht die Frauen, sondern die Kunden, stellt sie klar.

Gerade die Migrantinnen in der Prostitution hätten sehr große Berührungsängste. “In der Regel kennen sie solche Unterstützungsangebote nicht”, berichtet Jolanta Schmidt. Deshalb müsse ihnen zunächst vermittelt werden, was TAMAR sei: Eine unabhängige, nicht kontrollierende und anonyme Institution. Nur so könne ein Vertrauensverhältnis zu den Frauen aufgebaut werden. Die Lebensverhältnisse in den Herkunftsländern seien oft prekär und der Druck, Geld für die Familie zu verdienen, sehr groß.

Viele Frauen hätten den Wunsch, ihren ständigen Wohnsitz nach Deutschland zu verlagern. Ihre Kinder, die oftmals bei den Großeltern leben, würden sie gerne dauerhaft nach Deutschland holen. Verbunden hiermit seien zwangsläufig Fragen zur Wohnungssuche und zur Anmeldung der Kinder in Kita und Schule. Der Ausstieg aus der Prostitution sei ein langwieriger Prozess, wenngleich sich die meisten Frauen wünschten, einer anderen Tätigkeit nachgehen zu können. Hier fehle es aber häufig an der erforderlichen Schul- und Ausbildung sowie an den Sprachkenntnissen.

Zwölf der 2018 betreuten Frauen sind dabei, auszusteigen. Ein langwieriger Prozess, wenn sich auch viele wünschten, etwas anderes machen zu können. Dann aber sei der finanzielle Druck zu groß, beschreibt Sabine Reeh. Eine Frau für den Übergang in den Leistungsbezug zu bringen, funktioniere aber nur dann, wenn sie vorher auch eingezahlt habe. Jolanta Schmidt hat beobachtet, dass sie meisten Aussteigerinnen es wirklich schaffen wollen. Andererseits ist die Umstellung auf ein geregeltes Tagesjob-Leben nicht immer einfach, weiß Tanja Mesic: „Die Welt, in der sie leben, ist komplett anders.“

Weitere Informationen unter www.tamar-hilfe.de