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„… und die Hoffnung blüht auf“

Predigt zum 10-jährigen Bestehen der Beratungsstelle Nadeschda, Herford, 06.09.2007

Psalm 119, 145 - 160

Liebe Festgemeinde,
„…stütze mich wie du zugesagt hast, und ich werde leben. Lass mich in meiner Hoffnung nicht scheitern“ (Ps 119, 116 BigS).

Der 119. Psalm - der längste Psalm der hebräischen Bibel - ist ein einziger Lobpreis Gottes und seiner Thora, seiner Zusagen und seiner Ordnungen. Die Thora ist kein unterjochendes Gesetzeswerk, sondern Quelle der „Erquickung“, der „Freude“ und der „Zuflucht“. Gepriesen wird mit immer neuen Wendungen die Zuwendung und die Solidarität Gottes zu jeder einzelnen, zu jedem einzelnen, zu seinem Volk.
Von Gewalt und Bedrängnis, Unrecht und Treulosigkeit ist die Rede und immer und immer wieder die Vergewisserung, die tief gegründete Hoffnung: Gott schafft Recht.
Gott hilft, indem er ins Recht, in sein Recht setzt, die Unrecht erleiden. „Das Gebot, das die Juden umtreibt, ist kein moralischer Formalismus, sondern die lebendige Anwesenheit der Liebe. Das Gesetz ist die lästige Liebe; lästig vor allem, weil sie konkret in das individuelle und soziale Leben eingreift“ - schreibt ein jüdischer Ausleger des 119. Psalms.

„Stütze mich, wie du zugesagt hast, und ich werde leben. Lass mich in meiner Hoffnung nicht scheitern.“
Hoffnung ist im Alten Testament nicht in erster Linie der tröstende Schimmer, das berühmte Licht am Ende des Tunnels, sondern die Hoffnung gründet sich in der Geschichte mit Gott, in der Geschichte erlebter Rettung, Bewahrung und Begleitung. Gott war da, als das Volk bedrängt und ausgebeutet, bedroht und seiner Zukunft beraubt wurde. Gott war da, wenn Hunger und Durst, Streit und Orientierungslosigkeit die Wanderung durch die Wüste zu einer nicht enden wollenden Herausforderung machten. Gott war aber auch immer an der Seite derer, die ihr individuelles Schicksal in die Verzweiflung trieb. Sie sah Gott, sie hörte Gott, ihnen ging er nach – wie der missbrauchten und missachteten Sklavin Hagar in die Wüste. Diese Geschichte und diese Geschichten verdichten sich in unserem Psalm. Sie bewirken, dass sich die Gottesgemeinschaft, die Gemeinschaft der Betenden auf Hoffnung gründet.

„… lass mich in meiner Hoffnung nicht scheitern.“
Die Frauen, die seit 10 Jahren in unserer Beratungsstelle begleitet werden, sind in ihren Hoffnungen gescheitert, nicht in ihrer Hoffnung auf die alles verändernde Gerechtigkeit, auf das Ende der Armut, sondern in ihren Hoffnungen auf einen kleinen Anteil an jenen Chancen und Möglichkeiten, an jenen Lebensperspektiven, die sie in ihren Heimatländern so sehr vermissen und für die sie sehr viel bereit sind einzusetzen. Oftmals geht es um - für unser Lebensgefühl - Selbstverständliches: eine ärztliche Behandlung für die Eltern, eine Wohnung mit Wasser und Strom, eine Schulausbildung für die Geschwister oder Kinder, den Umzug in eine größere Stadt, in der es vielleicht Arbeit gibt.

Die Frauen sind in ihren Hoffnungen gescheitert. Sie haben Unfassbares, Unbeschreibliches erlebt und schämen sich zugleich für ihr Scheitern, ja, ihr Versagen. Wer so in ihren Hoffnungen scheitert, hat jegliche Orientierung, jeglichen Halt verloren. Eine Herausforderung des Glaubens, nicht nur der Betroffenen, der Opfer, sondern auch der Helfenden, der Tröstenden; derer, die „heraushelfen“. Eine Herausforderung an die soziale und ökonomische Gestaltung unserer Gesellschaft.

„Stütze mich, wie du zugesagt hast, und ich werde leben.
Lass mich in meiner Hoffnung nicht scheitern.“
Eine individuelle und eine kollektive Anrufung Gottes. Gottes Liebe und Gottes Gerechtigkeit sind konkret. Gottes Zuwendung gilt den einzelnen und der Gemeinschaft derer, die zu ihm gehören. Gott will ein Leben in Würde und Gerechtigkeit für alle Menschen. Alle sollen teilhaben an einem Leben in Fülle. Fülle ist nicht Überfluss, sondern: Sicherheit und Unversehrtheit, Versorgtsein mit dem, was zum Leben nötig ist; Eingebundensein in eine tragfähige Lebens- und Glaubensgemeinschaft; frei sein, zu denken, zu lieben und zu glauben und mitzuwirken an der Gestaltung des Zusammenlebens. Wer Menschen ihrer Würde beraubt, wer sie so verletzt, dass sie nicht mehr fähig sind zu lieben, zu glauben, zu hoffen, verletzt Gott selbst.

„Wer Gewalt an Frauen übt, zieht Gott in Mitleidenschaft, tut Gott selbst Gewalt an“ (Magdalene Frettlöh). „…lass mich in meiner Hoffnung nicht scheitern“-
Hoffnungsträger können wir sein, wenn wir nicht aufhören, an dieses Grunddatum unseres Glaubens zu erinnern; wenn wir Verantwortung dafür übernehmen, dass es ernst genommen wird. Dann gelten keine Entschuldigungen und Ausflüchte, keine Beruhigungen des eigenen Gewissens mehr: Warum hat sie denn? Wie konnte sie denn? Ist ja auch kein Wunder … - nein: Für Gewalt und Entwürdigung gibt es keine Ent-Schuldung. Sie verletzen Menschen in ihrer Gottebenbildlichkeit und damit Gott selbst.

Gott ist Partei der Opfer. Diese Klarheit, diese Parteilichkeit in allen Begegnungen und Gesprächen, in allen Prozessen und Verfahren zu schaffen, sollte unser Ziel sein und bleiben. Diese Klarheit, diese Parteilichkeit sind die vielleicht aussichtsreichste Saat für neu aufkeimende Hoffnung.

„…lass mich in meiner Hoffnung nicht scheitern“.
Durch die Bibel, durch die Geschichte des Glaubens hindurch gibt es eine hartnäckige und widerständige Hoffnung auf Gerechtigkeit. Aus ihr kommt die Kraft zu unterscheiden zwischen dem Leid, das zum Leben gehört, und jenem Unrecht, das Menschen Menschen zufügen, mittelbar und unmittelbar. Diese hartnäckige und widerständige Hoffnung ist in der Lage, immer und immer wieder aufzublühen, aus scheinbar vertrocknetem, unscheinbarem Gestrüpp. Sie bezieht ihre Kraft aus der Perspektive der Hoffnung auf die Treue Gottes, die auch dem Abgestorbenen, dem Vertrockneten, dem Toten, den Toten gilt.

Hoffnung ist Hoffnung auf Gerechtigkeit.
Hoffnung ist Hoffnung auf Gott.
Hoffnung ist Hoffnung auf Aufstand gegen Tod; auf Auferstehung des Totgeglaubten.

Die Grenze zwischen Leben und Tod, die Hoffnungsgrenze verschiebt sich in den Texten der Hebräischen Bibel. Die Gewissheit entsteht: Keine, keiner darf bei Gott je verloren gehen. Hoffnung wird nicht „zuschanden“ werden, darf an dieser Grenze nicht zerbrechen. Als Christinnen und Christen glauben wir, dass Gott selbst in Jesus Christus diese Grenze überschritten hat und sie so für uns geöffnet hat.
Unsere Hoffnung stirbt nicht mit den Opfern von Unrecht und Gewalt.

Dorothee Sölle hat diesen Gedanken entfaltet in ihren Hoffnungsreden, auch in ihren radikalen Hoffnungsreden für die Ermordeten - wie Oscar Romero oder Elisabeth Käsemann in El Salvador und Argentinien.

„Ich glaube nicht an eine individuelle Fortexistenz nach meinem individuellen Tod, ich glaube an das Leben nach dem Tod, an den Frieden, der vielleicht irgendwann einmal sein wird, an die Gerechtigkeit und an die Freude.“ Ihre politische Arbeit nennt Dorothee Sölle „Hoffnungsarbeit für Gerechtigkeit“.

„Stütze mich, wie du zugesagt hast, und ich werde leben.
Lass mich in meiner Hoffnung nicht scheitern“ -
Hoffnung kommt nicht leichtfüßig, nicht oberflächlich daher.
Gott möge uns stark machen, in unserer Hoffnungsarbeit für Gerechtigkeit.
Gott möge unserer Hoffnung immer mal wieder Nahrung geben, dass wir sie aufblühen sehen, dass wir Wegzehrung haben, wenn sich in uns und um uns alles zusammenzieht.
Gott mache unser Herz weit und schärfe unsere Aufmerksamkeit, unsere Urteils- und Unterscheidungsfähigkeit.
Gott lasse die Hoffnung derer aufblühen, die an ihren Hoffnungen gescheitert sind.

„Stütze mich, wie du zugesagt hast, und ich werde leben. Lass mich in meiner Hoffnung nichtscheitern.“ Amen.

Angelika Weigt-Blätgen
(Leitende Pfarrerin der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen)
 

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